Schmutz von der Straße
Der Dirgent Iván Fischer demonstriert in seiner Heimat Ungarn gegen den wachsenden Antisemitismus - heute gastiert er mit dem Budapest Festival Orchestra im Gasteig
Vor dreißig Jahren gründete Iván Fischer das Budapest Festival Orchestra. In dieser Zeit hat der ungarisch-jüdische Dirigent das Ensemble in die Topliga geführt. Zu ihren Spezialitäten zählen Gustav Mahlers Symphonien. Heute gastieren sie in München mit der Neunten. Nach den Proben in Budapest Ende November war Iván Fischer zu einem Gespräch bereit, um sich hinterher an einer Mahnwache vor dem Budapester Ostbahnhof zu beteiligen – gegen den neuen Antisemitismus in Ungarn.
AZ: Herr Fischer, wie fühlt es sich an, heute in Ungarn ein Werk von Mahler aufzuführen, der als konvertierter Jude angefeindet wurde?
IVÁN FISCHER: Ungarn entwickelt sich in eine scheußliche Richtung. Das ist eine Fahrt in den Abgrund, und ich muss sagen, dass Mahler das auch in seiner Musik verarbeitet hat. Manchmal bricht die Welt bei ihm zusammen, aber bei ihm ist das hundert Mal reicher. Was in Ungarn geschieht, macht fünf Prozent einer Symphonie von Mahler aus. Was Mahler uns bietet, das hat Teufel und Engel, Zwerge und Giganten – da ist der gegenwärtige ungarische Abgrund weniger wichtig. Und Mahler hatte generell gegen viele Widerstände zu kämpfen: Der Wiener Antisemitismus war nur ein Bruchteil.
Nämlich?
Das größte Problem war, dass man seine Musik als übertrieben und geschmacklos empfand. Mahler war modern, weil er auch den „Schmutz der Straße“ abgebildet hat - vulgäres Militär, derbe Volksmusik wie in der Neunten, jüdische Lieder, auch Kitsch. Manche Musiker mit Beckmesser-Seelen meckern darüber. Aber genau das ist ja das Moderne bei Mahler.
Und doch warnt die jüdische Gemeinde in Deutschland, dass sich Juden in Ungarn zusehends bedroht und verfolgt fühlten. Stimmt das?
Ja, es gibt eine Hasswelle. Sie ist nicht so schlimm wie in den 1930er Jahren, aber ja - das ist wahr. Deswegen gehe ich auf die Straße, obwohl die Idioten und Rechtsradikalen lauter und stärker geworden sind in der letzten Zeit. Es gibt eben auch die Gegenreaktion auf solche Tendenzen. Wenn man das konsequent durchführt, wird diese Welle wieder abebben.
Viele ungarische Künstler haben aber bereits ihre Heimat deswegen verlassen.
Ja. Auch ich habe meine Familie nach Berlin geschickt, damit sie dort leben. Ich denke, dass meine Kinder besser in Berlin auf die Schule gehen sollten. Man führt an den staatlichen Schulen in Ungarn derzeit furchtbare Dinge ein. Einige wirklich faschistische Autoren gelten als Pflichtlektüre. Auch ich bin vorsichtig, aber ich möchte die Budapester nicht im Stich lassen. Tausende folgen uns, wir haben ein riesiges Publikum. Sie hängen an unserem Orchester. Wenn wir Mahler machen, müssen wir drei Konzerte ansetzen – weil so viele kommen. Diese Musik ist für sie eine Hoffnung.
Weiß denn die Regierung, wie wichtig das Orchester ist – auch als Botschafter Ungarns?
Man muss fair und gerecht sein. Das Orchester ist gut versorgt, und ich denke, dass die Regierung es schätzt. Das ist richtig und gut. Aber deswegen bin ich nicht kritiklos. Aus meiner Sicht macht Ungarn einen Riesenfehler mit dem Schüren einer antieuropäischen Stimmung und dem Horthy-Kult. Miklós Horthy war in den 1930er Jahren ein Verbündeter von Hitler. Als Staatsmann hatte er einen großen Anteil daran, dass rund 400 000 ungarische Juden ermordet wurden. Zwar kommt dieser Kult nicht von der Regierung, aber sie distanziert sich nicht von ihm.
Gasteig, heute, Dienstag 20 Uhr. Karten unter 089/38384633 und an der Abendkasse
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