Rock mit Deutungshoheit: So war das Konzert von Kettcar in der Tonhalle München
Beyoncé gegen Kettcar. Und das ist wirklich kein Clickbait-Artikel, versprochen. Fangen wir an mit Beyoncé. Reichweite: international. Grammys: 32 (Rekord!). Größenordnung: Olympiahalle. Weiter zu Kettcar. Reichweite: Hamburg und ein bisschen vom Rest Deutschlands. Grammys: 0. Größenordnung: Tonhalle.
Aber an der Spitze der deutschen Album-Charts stehen plötzlich: Kettcar. Verdrängt haben sie: Beyoncé.
Wunderschöne Rotwein-Prosa
Die Nummer eins ist der Hamburger Indie-Band um Sänger Marcus Wiebusch zuvor noch nie gelungen - und dürfte sie selbst überrascht haben. Den größten Erfolg hatten Kettcar schließlich in ihrer Gründungszeit, Anfang der Nullerjahre. Danach schienen sie an Relevanz zu verlieren, 2017 folgte mit "Ich vs. Wir" ein vielbeachtetes Comeback. Und jetzt eben: neues Album, Spitze der Charts, Deutschland-Tour.
Ihren Auftritt in der Münchner Tonhalle wollen am Donnerstagabend knapp 2000 Besucher sehen. Altersschnitt: 40 aufwärts. Die Männer tragen Haarkränze und Funktionsjacken, die Frauen sehen aus wie Deutschlehrerinnen. Kettcar ist eine Lieblingsband von Germanisten. Das liegt an den verspielten Texten, der szenischen Erzählweise, der wunderschönen Rotwein-Prosa, die sich oft am Rande des Kitsches bewegt.
Musik für die eigene Filterblase
Viele der neueren Songs sind zudem hochpolitisch. Wiebusch singt von Chancenungleichheit ("Doug & Florence"), Rassismus ("München") und alles, was verzweifelte Linke noch so antreibt, hat er in den Opener "Auch für mich 6. Stunde" gepackt. Schattierungen gibt es kaum, die Band beansprucht moralische Deutungshoheit. "Du hoffst: Weisheit mit Löffeln für alle", raunt Wiebusch zu Beginn des Konzerts und lässt wenig subtil durchscheinen, wer in seinen Augen weise ist oder wer eher nicht. Der Vorwurf des moralisierenden, erhobenen Zeigefingers, begleitet Kettcar schon länger. Es ist Musik für die eigene Filterblase.
Wiebusch sieht nicht nur aus wie Robert Habeck, manchmal klingt er auch so. Aber dann stimmt die Band ihren zweiten Song an, "Benzin und Kartoffelchips", eine wütende Hymne auf falsche Entscheidungen und Freundschaften, eindringlich, persönlich, ehrlich. Wiebusch ballt eine Faust und als die Drums krachend einsetzen, schlägt er sie in die Luft. Verschwunden ist der altkluge Politiker, jetzt ist es ein Rockkonzert. Und dann kann und will man sich der Show nicht mehr entziehen.
Das Publikum ist textsicher
Knapp zwei Stunden stehen Kettcar auf der Bühne und beweisen, dass sie nicht nur schöne Texte schreiben können, sondern auch eine richtig gute Live-Band sind: Eingespielt, wuchtig, ohne Leerlauf. Moshpits gibt es nicht, das Publikum präsentiert sich dafür erstaunlich textsicher. "München will singen", ruft Wiebusch seinen Bandkollegen zu.
Nach 22 Songs ist Schluss, die Lichter gehen an, eine letzte Verbeugung. Dann verschwindet die Gruppe hinter der Bühne. Begleitet werden sie von Jubel, so laut und frenetisch, dass man für einen Augenblick denkt: Da ist keine Hamburger Indie-Band aus der Tonhalle marschiert. Sondern Beyoncé aus der Olympiahalle.
- Themen: