Kritik

Rock mit Deutungshoheit: So war das Konzert von Kettcar in der Tonhalle München

Die Hamburger Indie-Band Kettcar führt plötzlich die deutschen Charts an. Am Donnerstag waren sie in München
Maximilian Härtwig |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
1  Kommentar
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Der Sänger und Gitarrist Marcus Wiebusch sieht nicht nur aus wie Robert Habeck, manchmal klingt er auch so.
Der Sänger und Gitarrist Marcus Wiebusch sieht nicht nur aus wie Robert Habeck, manchmal klingt er auch so. © Jens Niering

Beyoncé gegen Kettcar. Und das ist wirklich kein Clickbait-Artikel, versprochen. Fangen wir an mit Beyoncé. Reichweite: international. Grammys: 32 (Rekord!). Größenordnung: Olympiahalle. Weiter zu Kettcar. Reichweite: Hamburg und ein bisschen vom Rest Deutschlands. Grammys: 0. Größenordnung: Tonhalle.

Aber an der Spitze der deutschen Album-Charts stehen plötzlich: Kettcar. Verdrängt haben sie: Beyoncé.

Wunderschöne Rotwein-Prosa

Die Nummer eins ist der Hamburger Indie-Band um Sänger Marcus Wiebusch zuvor noch nie gelungen - und dürfte sie selbst überrascht haben. Den größten Erfolg hatten Kettcar schließlich in ihrer Gründungszeit, Anfang der Nullerjahre. Danach schienen sie an Relevanz zu verlieren, 2017 folgte mit "Ich vs. Wir" ein vielbeachtetes Comeback. Und jetzt eben: neues Album, Spitze der Charts, Deutschland-Tour.

Ihren Auftritt in der Münchner Tonhalle wollen am Donnerstagabend knapp 2000 Besucher sehen. Altersschnitt: 40 aufwärts. Die Männer tragen Haarkränze und Funktionsjacken, die Frauen sehen aus wie Deutschlehrerinnen. Kettcar ist eine Lieblingsband von Germanisten. Das liegt an den verspielten Texten, der szenischen Erzählweise, der wunderschönen Rotwein-Prosa, die sich oft am Rande des Kitsches bewegt.

Musik für die eigene Filterblase

Viele der neueren Songs sind zudem hochpolitisch. Wiebusch singt von Chancenungleichheit ("Doug & Florence"), Rassismus ("München") und alles, was verzweifelte Linke noch so antreibt, hat er in den Opener "Auch für mich 6. Stunde" gepackt. Schattierungen gibt es kaum, die Band beansprucht moralische Deutungshoheit. "Du hoffst: Weisheit mit Löffeln für alle", raunt Wiebusch zu Beginn des Konzerts und lässt wenig subtil durchscheinen, wer in seinen Augen weise ist oder wer eher nicht. Der Vorwurf des moralisierenden, erhobenen Zeigefingers, begleitet Kettcar schon länger. Es ist Musik für die eigene Filterblase.

Wiebusch sieht nicht nur aus wie Robert Habeck, manchmal klingt er auch so. Aber dann stimmt die Band ihren zweiten Song an, "Benzin und Kartoffelchips", eine wütende Hymne auf falsche Entscheidungen und Freundschaften, eindringlich, persönlich, ehrlich. Wiebusch ballt eine Faust und als die Drums krachend einsetzen, schlägt er sie in die Luft. Verschwunden ist der altkluge Politiker, jetzt ist es ein Rockkonzert. Und dann kann und will man sich der Show nicht mehr entziehen.

Das Publikum ist textsicher

Knapp zwei Stunden stehen Kettcar auf der Bühne und beweisen, dass sie nicht nur schöne Texte schreiben können, sondern auch eine richtig gute Live-Band sind: Eingespielt, wuchtig, ohne Leerlauf. Moshpits gibt es nicht, das Publikum präsentiert sich dafür erstaunlich textsicher. "München will singen", ruft Wiebusch seinen Bandkollegen zu.

Nach 22 Songs ist Schluss, die Lichter gehen an, eine letzte Verbeugung. Dann verschwindet die Gruppe hinter der Bühne. Begleitet werden sie von Jubel, so laut und frenetisch, dass man für einen Augenblick denkt: Da ist keine Hamburger Indie-Band aus der Tonhalle marschiert. Sondern Beyoncé aus der Olympiahalle.

  • Themen:
Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
1 Kommentar
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
  • am 19.04.2024 23:32 Uhr / Bewertung:

    Nicht nur unerträglich dröge sondern auch moralinsauer aufstoßend also?

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.