Kritik

Patti Smith auf dem Münchner Tollwood: Punk als Poesie

Patti Smith besuchte in München das Grab von Fassbinder und faszinierte danach ihre Fans auf dem Tollwood-Festival.
Autorenprofilbild Christoph Streicher
Christoph Streicher
|
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Patti Smith live auf demTollwood-Festival.
Patti Smith live auf demTollwood-Festival. © Jens Niering

Ist Punk nun tot oder nicht? Wer Patti Smith im restlos ausverkauften Tollwood-Zelt erlebt, merkte schnell: Er klingt heute noch, aber eben anders. Punk ist nämlich nicht mehr so wütend wie früher. Die 78-jährige US-Amerikanerin mit den schneeweißen Haaren musste weder körperlich noch stimmlich über die Bühne hetzen, um ihre Botschaften zu vermitteln. Punk ist bei ihr zur Poesie geworden. Sie stand, sang, erzählte, berührte. Alles in einer eigensinnigen Mischung aus Rock, Lyrik und Lebensklugheit. Gibt es so etwas wohl noch einmal in der Musikwelt? Wohl kaum. Was für eine coole Rock-Oma stand da denn bitte auf der Bühne?

Patti Smiths Song für den Dalai Lama 

Patti Smith kündigte vorab an, ihr Debüt-Werk "Horses“ ist genau 50 Jahre alt. Warum sie dann lediglich "Redondo Beach“ als Opener aus dem Album auf die Setlist packte, ist wahrscheinlich gar nicht so wichtig. In ihrer Herbst-Tour will sie sich vermehrt um die Platte kümmern und sie hatte immer noch ihre Klassiker "Pissing in a River“ und "Because the Night“ dabei.

Patti Smith live auf dem. Tollwood-Festival.
Patti Smith live auf dem. Tollwood-Festival. © Jens Niering

Viel wichtiger war die künstlerische Aktualität. "Peaceable Kingdom“, ein Song, der als Appell gegen Krieg und Gewalt verstanden werden kann. Weil der Dalai Lama kürzlich seinen 90. Geburtstag feierte, spielte sie "1959“. Hymnisch-spirituell vorgetragen, ein Lied über die damalige Lage in Tibet, neue Autos und die Verfolgung von Dichtern wie Allen Ginsberg und William Burroughs.

So viel erzählerische Tiefe passt heute kaum noch in die Zwei-Minuten-Songs, die für Streamingdienste optimiert sind. Von Ginsberg hatte sie auch eine Art Ode-Gedicht-Gebet dabei, das sie von zwei Zetteln halb lesend, halb beschwörend vortrug, anschließend zerknüllte und ins Publikum warf. Wie so oft hatte sie auch für die aktuelle Regierung der Vereinigten Staaten einen Seitenhieb übrig. Vor dem Song "Ghost Dance“ kritisierte sie die Politik und die Vertreibung der indigenen Einwohner.

Der Sohn begleitet Patti Smith an der Gitarre 

Die Sängerin berichtete, wie sie am Nachmittag am Friedhof in Bogenhausen das Grab von Rainer Werner Fassbinder besucht hatte. "Ich habe im Regen gesessen und mit ihm gesprochen, das müsst ihr auch mal machen“, sagte sie.

Patti Smith live auf dem Tollwood-Festival.
Patti Smith live auf dem Tollwood-Festival. © Jens Niering

Spätestens da hatte sie das Münchner Publikum in der Hand. Smith dirigierte es als eine Art musikalische Hohepriesterin. "Ihr seid mein Konzert“, rief sie erfüllt von so viel Liebe. Denn das Zelt verzieh, mit großem Jubel, kleine Texthänger (auch beim Hit "Because the Night“). Ein gesungenes "Sorry“, wenn der Takt nicht stimmte. Oder wenn sie sich bei Bassist Tony Shanahan erkundigen musste, welcher Song als nächstes gespielt wird.

Eine Brille wäre jetzt besser 

Eine gedruckte Setlist auf dem Bühnenboden oder einen Bildschirm gab es nicht. Aus einem einfachen Grund: die Augen machten nicht mehr mit. Im Publikum hatten (auch die etwas älteren) Fans Pappschilder gemalt. Da wurde einfach "Danke für deine Musik und Poesie“ geschrieben oder nach einer Widmung im Buch gefragt. "Ich muss erst meine Brille holen, um das lesen zu können“, rief die Punk-Oma grinsend.

Sie hatte ihren Sohn mit auf die Bühne genommen. Jackson Smith spielte an der Gitarre zu den Hits seiner Mutter. Immer wieder bekam das glänzend aufgelegte Quartett Passagen, um ihre Instrumente auszutesten (bei "Nine“ oder "Beneath the Southern Cross“). Das klang manchmal etwas zu konventionell, aber die Augen wanderten bei den Soli immer Mutti Patti hinterher.

Lesen Sie auch

Die stand vorn am Bühnenrand und spuckte einen Schluck Wasser in den Bühnengraben oder hatte sich selbst eine Akustikgitarre umgeschnallt. "Ich muss dringend aufs stille Örtchen“, rief sie kurz vor dem Ende. Punk geht es also doch noch gut, wenn die alten Muster funktionieren. Bei der klasse gelungenen neuen Coverversion von "Bullet with Butterfly Wings“ von den Smashing Pumpkins starrte sie erst sekundenlang in Leere, um dann doch noch voll in Ekstase zu verfallen.

Zum Schluss gibt es "People Have the Power" 

Mit einer klug gewählten Kameraperspektive gelang es dem Video-Team, die Künstlerin, ihre Band und die vorderen Publikumsreihen gemeinsam ins Bild zu setzen. Gepaart mit dem Waschküchen-Klima fühlte man sich wie in einem Club in New York. "Diese Feuchtigkeit ruiniert meine Frisur“, war der knappe Kommentar der Lady, die sich schon früh die Mütze vom Kopf und das Shirt aus der coolen Cropped-Jeans riss.

Um die Frage vom Anfang zu beantworten: Ist Punk tot? Im Smith-Universum ist er vielleicht einfach nur sanfter geworden. Und vielleicht passt diese Altersmilde genau in das Konzept, was die Fans von ihr erwartet hatten.

Einige von ihnen hatten draußen in den nassen Kies vor dem Zelt ein großes Peace-Zeichen gemalt. Nach dem letzten Song "People Have the Power“ schlichen viele andächtig am Kunstwerk vorbei – auch das ist wohl Punk.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.