Prokofjew satt mit Valery Gergiev
Prokofjews Symphonien unter Valery Gergiev an einem Tag mit zwei Orchestern im Gasteig
MÜNCHEN - Der antiken Legende nach starb der griechische Bote Pheidippides an Erschöpfung, nachdem er den ersten Marathon gelaufen war. Valery Gergiev hat mehr Zutrauen in seine Ausdauer: Während er noch mitten im Prokofjew-Marathon steckt und bereits vier Symphonien und zwei Mozart-Violinkonzert absolviert hat, läßt er es sich nicht nehmen, mit dem Mariinsky Orchester noch eine Zugabe zu geben, eine hochkonzentrierte Version des „Prélude à l´après-midi d´un faune“ von Claude Debussy. Das ist ungefähr so, als ob Pheidippides seinerzeit unterwegs kurz beim Bäcker angehalten hätte, um den Leuten am Zielort zusätzlich zur Botschaft noch frische Teigwaren mitzubringen.
Nun ist ein Langstreckenlauf zwar anstrengend, aber keine Sache der Kunst. Was macht das mit den
Musikern, wenn das einzelne Konzert nicht soviel zählt als vielmehr die Serie? Schauen wir zuerst auf Valery Gergiev, den Motor dieses symphonischen Tages. Abgesehen von seinem charakteristischen, weit vernehmbaren Zischen und Schnaufen bei den Einsätzen hält er sich dieses Mal mit Nebengeräuschen zurück.
Haushälterische Leidenschaft
Fast wirkt er von Strapazen unberührt, wenn er das Podium betritt oder nach den einzelnen Konzerten die obligatorischen Gratulationsblumen entgegennimmt. Er geht mit seiner Leidenschaft haushälterisch um, sucht in den einzelnen Symphonien Sergej Prokofjews eher eine gewisse mäßigende Mitte, was diesen Werken, die nicht ganz frei sind von Längen, gelegentlichen Trivialitäten und Schönheitsfehlern etwa in der Orchestrierung, ganz gut tut.
In den frühen Symphonien des jungen wilden Komponisten verzichtet Gergiev darauf, deren bruitistische Ausrichtung zu überzeichnen. Auch so wird in der Symphonie Nr. 3 c-moll noch genug gelärmt und die lange durchgehaltenen Massierungen rücken dem Publikum in der Philharmonie bedrohlich nahe. Dennoch bleibt der Klang der Münchner Philharmoniker kultiviert, besonders die insistierenden Ostinati werden angenehm musikalisiert, nur im letzten Satz „Andante mosso“ lassen die Blechbläser einmal grelle, ja, sogar leicht ätzende Töne hören.
Orientierung mit dem Zahnstocher
Vergleichbar ist Gergievs Interpretationsansatz in der viel späteren 5. Symphonie B-Dur, wiewohl die Vermittlungsstrategie hier in die andere Richtung zielt. In diesem Stück kommt es darauf an, die pausbackige Instrumentation ein wenig aufzurauen: Jedes Knarzen des Kontrafagotts etwa ist hochwillkommen. Auch, dass der Scherzo-Satz seine schwerfällige Physis nicht ablegen kann, ist nur ehrlich, es läßt sich aber dann auch eine gewisse Ungeplantheit des Zusammenspiels nicht mehr überhören.
Der winzige Stab Gergievs, der berüchtigte Zahnstocher, gibt eben nicht immer Orientierung. Zumal, wenn Gergiev mit dem Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters musiziert, und diesem Apparat, mit dem ihn seit Jahrzehnten eine gegenseitige Vertrautheit verbindet, nur einen Bruchteil der Zeichen gibt, die er auf die Münchner Philharmoniker aufwendet.
Unschöne Brüche
Da werden Zäsuren übersehen: überhaupt fügt Gergiev sämtliche Sätze in einem atemlosen Attacca aneinander, da verliert ein Tempo seine Stabilität und stolpert voran, da gibt es unschöne Brüche, wenn sich Instrumente miteinander verbinden oder sinnreich voneinander ablösen sollten. Vor allem aber fehlen zu oft saubere und bewusste Abschlüsse von Phrasen. Im direkten Vergleich begleitet deshalb das Münchner Orchester Vilde Frang in Mozarts Violinkonzert Nr. 1 sorgfältiger als das St. Petersburger Yu-Chien Tseng in Mozarts Violinkonzert Nr. 4. Denn an der Feinabstimmung entscheidet sich, ob ein Orchester bloß spielt oder die Musik wirklich artikuliert.
Vielleicht sollte Valery Gergiev nächste Jahr nur einen halben Marathon laufen.
Auf www.medici.tv kann man Mitschnitte der Konzerte ansehen