Morgenröte einer neuen Ära
Er liebt asiatisches Essen. Wenn er im taiwanesischen Taipeh weilt, kann man Valery Gergiev im Kult-Restaurant „Din Tai Fung” antreffen – so auch jetzt auf der ersten Tournee der Münchner Philharmoniker mit ihrem neuen Chefdirigenten. Man ist stolz auf den Michelin-Stern, der seit 2010 fünf Mal in Folge vergeben wurde. Hier werden die wohl besten Xiaolongbaos hergestellt – traditionelle Teigbällchen mit allerlei delikaten Füllungen.
Gergiev mag sie ganz besonders. Mit seinen großen Händen greift er nach den zarten filigranen Gebilden, um sie in seinem noch größeren Mund zu versenken. Das erinnert an den bösen Wolf aus Rotkäppchen. Ein russischer Bär ist der Dirigent allemal. Mit verunglückten Äußerungen hat er sich in der Öffentlichkeit als derber Haudegen präsentiert – zumal zur homophoben Politik in Russland, der Krim-Krise oder dem Ukraine-Konflikt.
Natürlich ist der neue Philharmoniker-Chef nicht der Typ, der irgendetwas zurücknimmt und sich entschuldigt. Trotzdem tut es ihm leid, dass er damit dem Orchester geschadet hat. „Ich habe nichts Dummes gesagt. Aber es hat auch die Musiker getroffen“, räumte Gergiev bei einem Gespräch in Taipeh ein. „Wir müssen uns jetzt einzig auf die Musik konzentrieren.“
Und das ist gut so, denn: Schon seit einer gefühlten Ewigkeit war die Stimmung im Orchester nicht mehr so gut wie jetzt in Asien. Dabei begann die große Tournee in Taiwan unter erschwerten Bedingungen. Kurz vor Abflug haben die Philharmoniker in München das neue Festival „MPhil 360 Grad°“ gestemmt. Gergiev selber dirigierte zwischen München und Taipeh noch zusätzlich in Basel und Moskau – der schiere Wahnsinn.
Frischer Wind
Prompt trudelte Gergiev verspätet in Taipeh ein, knapp vor Beginn des ersten Konzerts. Die gemeinsame Probe fiel ins Wasser, dennoch wurde geübt. Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici vertrat kurzerhand Gergiev. Ein solches Engagement wäre früher undenkbar gewesen. Das Klischee eines trägen, eitlen Beamten-Orchesters, das nach Stoppuhr probt, muss gründlich revidiert werden – auch weil sich die Philharmoniker inzwischen deutlich verjüngt haben.
Die Youngsters bringen frischen Wind in die Bude. Ihre Energie steckt nicht nur die reiferen Musiker an, sondern übertrug sich in Taiwan und Südkorea auch auf das Publikum. In Seoul wurden die Philharmoniker gefeiert wie Pop-Stars. Selbst als Gergiev die Bühne längst verlassen hatte, wollte der Beifall nicht aufhören: Die Musiker verbeugten sich.
Bei der Probe zum zweiten Konzert in Taipeh unter Gergiev war wiederum ein Chefdirigent zu erleben, der staunenswert präzise und konstruktiv am jeweiligen Klang der Werke feilte. Die Ergebnisse übertrafen die Münchner Antrittskonzerte Gergievs im September um ein Vielfaches – nicht nur in Anton Bruckners Symphonie Nr. 4, sondern auch in der Sechsten von Peter Tschaikowsky.
Wirkte die „Pathétique“ in München teils emotional überladen, so erreichte Gergiev in Taipeh und Seoul eine schlüssige Balance zwischen dem Dramatischen und Lyrischen. Nirgends herrschte Überdruck oder sentimentale Larmoyanz. Tschaikowskys Sechste wurde glasklar seziert und verlebendigt – ein Edelklang vom Allerfeinsten, auch dank genauester Staffelungen und Differenzierungen der Dynamik. Wenn diese Qualität und hochmotivierte, gute Atmosphäre anhalten, könnte bei den Philharmonikern endlich eine neue Ära anbrechen.