Mehr Charakter wagen
Es ist durchaus löblich, wenn Brahms ohne Bart und Zigarrenqualm aufgeführt wird. Aber eine Idee, wie sich Solo und Orchester zueinander verhalten, sollte man haben. Sie teilte sich in der musterschülerhaften Anti-Interpretation des Klavierkonzerts Nr. 1 durch Kent Nagano und den österreichischen Pianisten Till Fellner vor lauter Notenpositivismus nicht mit.
Es ist ein Klischee, dass der ehemalige Generalmusikdirektor der Staatsoper ein Mann fürs Interessante ist, dem Klassiker weniger liegen. Dieses Konzert der Münchner Philharmoniker lieferte ihm aber einige Nahrung. Vor der Pause brachte Nagano zwei Stücke klug zusammen, die den Untergang des alten Europa vor 100 Jahren spiegeln: Alban Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 mit ihrem apokalyptischen Marsch und die Wien-Vision „La Valse“ von Maurice Ravel. Sie klang erdenschwer nach Richard Strauss, dafür wurde bei Berg eher scharf gespielt und das klangliche Ungefähr so weit als irgend möglich vermieden.
Den Ruhepunkt bildete das Adagietto aus Mahlers Fünfter. Nagano verstand es nicht als Liebeserklärung des Komponisten an seine Frau, sondern als Trauermusik für den verstorbenen Claudio Abbado, dem das Konzert gewidmet war. Der Dirigent gestaltete das Tempo frei, der Streicherklang der Münchner Philharmoniker vereinte morbide Fahlheit mit Wärme. Und deshalb wird man diese zehn Minuten so schnell nicht vergessen. Denn hier riskierte Nagano jenen Charakter, den er bei Brahms leider so sorgfältig verbarg.