Mahler mit Celibidache und Thielemann

"Ein chaotischer Mensch, ein Genie, aber selbstherrlich“, „kein Sinn für Architektur oder Konsequenz“, „ihm fällt immer wahnsinnig Gutes ein, aber er kann nie aufhören, er weiß nie, wohin damit“: Als sich Sergiu Celibidache 1986 in einem Gespräch über Gustav Mahler äußerte, ließ er ihm zwar einige positive Eigenschaften, doch sein Urteil über den an der großen Form scheiternden Komponisten war umso vernichtender. In seinen 17 Jahren als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker sparte er Mahlers Musik ganz aus.
Ganz? Immerhin eine legendäre Aufführung der „Kindertotenlieder“ gab es 1983, seinerzeit noch im Herkulessaal.
Die Veröffentlichung des Konzertmitschnittes innerhalb des CD-Archivs der Münchner Philharmoniker ist von höchster künstlerischer Bedeutung. Nicht zufällig hatte sich Celibidache noch ziemlich am Anfang seiner Münchner Zeit das am stärksten kontrapunktisch durchgestaltete Werk Mahlers ausgesucht, dessen hochkonzentrierter Linienführung er in Zeitlupe und mit geradezu knirschend intensiver Aufmerksamkeit nachforschte.
Brigitte Fassbaender ist nicht zu beneiden, wie sie all ihren Atem zusammennehmen muss, um unendlich weite melodische Bögen zu spannen, doch gleichzeitig kann sich ihre Stimme auch geradezu naturhaft entfalten. Die Zugabe, die Tondichtung „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss in einem Mitschnitt von 1979, dokumentiert den Beginn von Celibidaches Münchner Ära: packend, wie die vielgliedrige Form in einem Guss ersteht, und wie überlegen die anfallartigen Tutti ausbalanciert sind.
Starker Auftritt
Unter Celibidaches Nachfolgern sind die Philharmoniker nie wieder so gründlich, sozusagen von der Pike auf, neu organisiert worden. Auf den Mahlerianer James Levine folgte Christian Thielemann, der Mahler bis heute vergleichsweise selten dirigiert. Sein Konzert von 2011 gehörte gleichwohl zu seinen stärksten Auftritten. Acht „Wunderhorn“-Lieder klopfte er bewusst auf schroffe, fahle, spröde Klangwirkungen hin ab.
Weil Thielemann auf ausufernden Wohlklang verzichtete, konnte Michael Volle mit seinem schweren Bariton ganz im Mittelpunkt stehen: als Idealfall eines Mahlersängers, der die traurigen und angstvollen Zustände der Lieder mit einem Mindestmaß an äußerer Dramatik, eher von innen her, erfahrbar machte.
Im Adagio aus der Symphonie Nr. 10 hingegen ließ Thielemann die philharmonischen Gruppen in ständigen Übergängen sanft ineinanderfließen. Den Detailreichtum Celibidaches erreichte er nicht, doch eine Bruchlosigkeit der formalen Anlage, die der Musik dieses „chaotischen Genies“ gut tat.
Gustav Mahler: Kindertotenlieder; Brigitte Fassbaender, Mezzosopran; Richard Strauss: „Tod und Verklärung“ op. 24; Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache (1979/83); Acht Wunderhorn-Lieder; Adagio aus der Symphonie Nr. 10; Michael Volle, Bariton; Münchner Philharmoniker, Christian Thielemann (2011); Münchner Philharmoniker Archiv, zwei Einzel-CDs