Maestros Sternstunden
München - Nur noch ein Stück, eine letzte Zugabe, ein echter Rausschmeißer. Doch dann passiert erst einmal nichts. Maestro sucht im Ordner noch nach den Noten, blättert immer hastiger hin und her. Keine Chance. Wären andere Künstler bei diesem Fauxpas vielleicht verzweifelt, lächelt dieser kleine große Mann die unfreiwillige Pause vor dem Schlussakkord dann einfach mit einem Schulterzucken weg.
Sekunden später dirigiert Ennio Morricone sein 200 Mann starkes Orchester samt Chor durch den monumentalen Sound von "On Earth as it is in Heaven" aus dem Film "Mission". Ganz ohne Taktstock, aber mit viel Taktgefühl - trotz der schwächelnden Akustik in der bestens gefüllten Olympiahalle.
Italienische Lässigkeit
Der italienische Filmkomponist hat auch mit 88 Jahren noch eine Lässigkeit, eine Bescheidenheit, die ihn von vielen in seiner Zunft unterscheidet und neben seinem Sound so einzigartig macht. Fast drei Stunden sitzt der Römer – inklusiver Pause – auf einem fast schon schäbigen Büro-Drehstuhl, verbeugt sich gelegentlich vor seinen Fans, spricht aber sonst kein Wort – außer er wird dazu gezwungen.
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Kurz vor der Pause, nachdem der Herr über 500 Soundtracks die Sergio-Leone-Westernkarte gezogen hat, wird er von zwei Laudatoren in französischer und englischer Sprache überrascht. Wie aus heiterem Himmel überreichen sie dem nimmermüden Oscarpreisträger den Prix UMCF, einer Vereinigung französischer Filmkomponisten. Morricone wirkt ähnlich überrumpelt wie das Publikum, bis ihm eine Assistentin auf Italienisch einflüstert, was gerade geschieht. Und dann schießen doch tatsächlich Tränen in sein freundliches Gesicht, wirkt der Mann, der doch fast alles gewonnen hat was es in seinem Bereich zu gewinnen gibt, ehrlich gerührt.
Einige Klassiker fehlen
Weniger gerührt als erstaunt konnte man über die Auswahl aus seiner 60-jährigen Karriere sein. In der ersten Dreiviertelstunde spielt Morricone fast nur Stücke des italienischen Regisseurs Giuseppe Tornatore. Und die sind bis auf "Cinema Paradiso" dann auch durchaus mal sentimental, bis an die Grenze zum Schlager. Auch kommt in dieser Zeit der über 100 Mann (und Frau) starke Uni-Chor der LMU München gar nicht zum Einsatz. Ebenfalls verwunderlich, dass Morricone Klassiker wie "The Man with the Mundharmonica" aus "Spiel mir das Lied vom Tod" oder das unvergessliche Panflöten-Motiv aus "Cockeye’s Song" nicht ins Programm aufgenommen hat.
Doch Morricone, der mit 90 im Ruhestand die Musik gegen das Schachbrett eintauschen will, hat seinen eigenen Willen, war nie ein Fan vom Hype um seine Italo-Western-Soundtracks. Deswegen dominieren auch im zweiten Teil – bis auf das herrlich dissonante Thema zu Tarantinos "The Hateful Eight" - die klassisch-gefühlvollen Stücke, die auch nostalgisch an eine untergegangen Filmmusikära erinnern.
Ganz ohne elektronische Reize und Synthesizer à la Hans Zimmer darf man sich vom Streicherteppich wegtragen lassen in die 60er, 70er und 80er Jahre. Eine Zeit, das wird noch mal klar, die Morricone cineastisch geprägt hat wie kaum ein anderer.