Klassik mit Bier, Cola und Picknick
Über 5000 Londoner feiern Mariss Jansons, den Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nach Mahlers Symphonie Nr. 2 bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall
Es ist nicht ganz einfach, das Fernorchester in der Zweiten von Gustav Mahler mit dem Orchester auf dem Podium zu koordinieren. Jedenfalls dann, wenn der Schlag des Dirigenten nicht hinter die Bühne übertragen werden kann, weil die Monitore streiken. In solchen Momenten kann es auf Proben explosiv werden – vor allem, wenn ein wie Mariss Jansons Perfektionist am Pult steht.
In London aber blieb der Chef des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks gelassen. „Es wäre wirklich wichtig, einen Monitor zu haben, der funktioniert“, sagte Jansons den Technikern in der Royal Albert Hall – und lächelte ironisch.
Dort gastierte das Orchester im Rahmen der „BBC Proms“. Das Wort steht für „promenades series“, eine Tradition sommerlicher Konzerte, die bis in Jahr 1895 zurückreicht. Eine Kleiderordnung gibt es nicht, denn von Anfang an sollte ein breites Publikum angesprochen werden. Viele preiswerte Stehplätze zu 5 bis 10 Pfund gibt es: Für sie ist das Parkett reserviert. Diese Besucher werden Promenaders genannt – Spaziergänger.
Mariss Jansons wirkt auf der sommerlichen Festival-Tournee des Orchesters durch Europa wie ausgewechselt: entspannt und ohne Überdruck. „Er dirigiert und präsentiert sich fast schon zen-buddhistisch“, sagt ein Musiker. „Ich weiß, dass ich sofort explodieren kann“, bekennt Jansons selber. „Das ist schlecht, aber das sind meine Emotionen. Ist mein Adrenalin wieder unten, frage ich mich: Warum habe ich das gemacht? Ich versuche mich zu bremsen. Nicht immer gelingt es, weil es zu spät ist. Ich hatte aber auch gesundheitliche Probleme. Jetzt fühle ich mich sehr gut. Vielleicht ist das ein Grund.“ Zudem hat er seinen Vertrag beim Bayerischen Rundfunk bis 2018 verlängert und den Ernst von Siemens Musikpreis erhalten – viel Zuneigung in den vergangenen Monaten.
„Zwischen ihm und uns herrscht derzeit eine seltene Harmonie“, berichten Musiker. „Er vertraut uns jetzt mehr und lässt uns einfach gewähren“ – womöglich auch, weil das Orchester nun das von Jansons gewünschte Niveau erreicht hat. Das zeigte sich in London in der Zweiten von Mahler: Eine Klangkultur wurde gelebt, die man so nicht erwartet hatte – gerade auch die Staffelung und Differenzierung der Dynamik.
Mit der konsequenten Reduktion bis in die Stille wurden die Ausbrüche umso packender. Alles war bleibend an diesem Abend – auch die Leistungen der Chöre des Bayerischen und Westdeutschen Rundfunks sowie der Solisten Genia Kühmeier und Gerhild Romberger. Wie Romberger dem „Urlicht“ eine Wahrhaftigkeit in Ausdruck und Farbe schenkte, das war ohne Beispiel. Zudem verrät ein Vergleich mit der Live-Aufnahme der Zweiten mit dem Concertgebouw in Amsterdam von 2009, wie sehr sich Jansons’ Sicht auf Mahler gewandelt hat – sie ist nun weitaus klarer, geistiger und gelöster.
Der Sucher Jansons hat in London Mahler gefunden, auch wenn er es selber so nicht sagt. „Ob ich gefunden habe – das ist schwierig. Vor anderthalb Monaten habe ich wieder angefangen, mich auf die Zweite vorzubereiten. Ich dachte: Mein Gott, ich habe dieses Werk hundert Male dirigiert. Wie muss ich jetzt damit umgehen? Ich glaube, ich habe es jetzt durchsichtiger gemacht.“
Die über 5000 Zuhörer in der Royal Albert Hall schienen den Atem anzuhalten. Kein Husten oder Rascheln war in der riesigen Halle zu hören - obwohl bei den „Proms“ während der Konzerte auch Bier oder Cola getrunken werden darf. In den Pausen ist sogar Picknick erlaubt.
Manche hatten sich für das Konzert stundenlang angestellt, draußen schlängelte sich die Schlange durch das ganze Viertel. Und als dann der Chor „Auferstehn, ja auferstehn“ anhob wie aus einer anderen Dimension, machte sich fassungsloses Staunen breit.
Auch englische Kritiker hatten eine solche Reaktion noch nicht erlebt. An diesem Abend wurde nicht nur Jansons gefeiert, sondern auch das gesamte Orchester. Jetzt scheinen der Dirigent und seine Musiker zu ernten, was sie in beharrlicher Arbeit gesät haben. In London jedenfalls ist ein Wunder geschehen – reich, wer dabei war.