Im Norden das große Schweigen

Ein Verkannter? Zwei neue Bücher zum 150. Geburtstag des finnischen Symphonikers Jean Sibelius
Robert Braunmüller |
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Die Verehrer dieses Komponisten glauben an eine finstere Verschwörung: Zwar halte eine Hand voll tapferer Musiker das Andenken des finnischen Symphonikers wach. Aber ein mächtiges Meinungskartell von Schönberg- und Stockhausen-Verehrern verweigere Jean Sibelius bis heute den verdienten Platz in der Ruhmeshalle der Musikgeschichte.

Im Gegenzug tragen Sibelius-Verteidiger gern dick auf. Volker Tarnow behauptet etwa in seiner neuen Biografie, die „Szene mit Kranichen“ sei weitaus bedeutender als alles, was Olivier Messiaen „jemals zum Thema Vogelgesang von sich gab“. Der Philosoph Theodor W. Adorno, wegen seiner polemischen „Glosse über Sibelius“ der Große Satan für alle Verehrer des Finnen, wird durch die Nichtnennung seines Namens im Haupttext abgestraft und nebenbei als Krypto-Nazi diffamiert.

Pui Kaiki

Sibelius polarisiert. Und zwar schon immer. Eine Tochter von Gustav Mahler befand auf pseudo-finnisch, der berühmte „Valse triste“ sei „Pui Kaiki“. Was aber angeblich nicht heißen soll, was der Klang suggeriert, sondern nur „Pfui Teufel“. Dafür lobten Herbert von Karajan und Otto Klemperer die Symphonien. Für Simon Rattle brennt jeder Tropfen Sibelius die Haut bis zu den Knochen durch. Und der Komponist Wolfgang Rihm hat erklärt, er würde sein Haus niemals ohne die Taschenpartitur der Symphonie Nr. 4 verlassen.

Sibelius gilt als Inbegriff der finnischen Musik. Doch die Muttersprache des am 8. Dezember 2015 vor 150 Jahren geborenen Komponisten war schwedisch. Das als Bauernsprache verachtete Finnisch hat er erst in der Schule gelernt. Seine Tondichtung „Finlandia“ und die vom Nationalepos „Kalevala“ inspirierten Werke stärkten das kulturelle Selbstbewusstsein des nach Unabhängigkeit strebenden Landes, das bis 1917 als Großfürstentum zum Russischen Reich gehörte.

Bald wurde Sibelius zum lebenden Nationaldenkmal des unabhängigen Finnland. Weil er nichts mehr fürchtete als Kommunisten, hatte er nichts dagegen, Ehrungen aus Nazi-Deutschland entgegenzunehmen, wo man seine Musik als besonders „nordisch“ zu propagieren versuchte. Denn den Deutschen stand er immer nah: Er studierte in Wien und Berlin. Richard Strauss brachte sein berühmtes Violinkonzert zur Uraufführung.

Alkohol, Bankette, verbrannte Partituren und innere Leere

Doch der wachsende internationale Ruhm setzte Sibelius seelisch unter Druck. Die Schaffenskrisen wurden immer länger. Die lange erwartete Symphonie Nr. 8 hat er wahrscheinlich nach der Fertigstellung verbrannt. In den letzten drei Jahrzehnten seines 91 Jahre langen Lebens scheint er nicht mehr komponiert zu haben. Gegenüber einem Journalisten begründete er dies mit einer seelischen Verstimmung, hervorgerufen durch „Zerstörung und Massenmord“. Ein Fall von Altersdepression?

All dies verführt dazu, die Musik von Sibelius autobiographisch zu verstehen. Oder als Schilderung der weiten finnischen Landschaft. Tarnow verfällt diesen Klischees in seiner so flott, pathetisch und bisweilen auch raunend geschriebenen Biografie liebend gern. Das Buch ist voll von Geschichten über Saufgelage, bei denen Hummer und Branntwein im Gegenwert des Monatslohns von zwei finnischen Arbeiterfamilien vertilgt wurden.

Das ist so unterhaltsam wie befremdlich. Aber über die Musik erfährt der Leser von Tarnows Buch vergleichsweise wenig. Deshalb sollte man zur Korrektur auch den schmalen Band „Jean Sibelius“ von Joachim Brügge anschaffen. Hier wird in klarer Sprache verständlich erklärt, wie sich die Werke des Finnen zur symphonischen Tradition verhalten. Und da wird es wirklich interessant: Sibelius hat seine Musik primär vom Klang her entworfen. Auch seine stete Variation motivischer Klein-Zellen ist bestimmten Tendenzen der Avantgarde näher, als ihre Verächter glauben.

Und was die angeblich gegen Sibelius gerichtete Verschwörung angeht: Die wahren Schufte sind jene mächtigen Figuren des Musiklebens, die uns immer nur mit „Finlandia“, dem Violinkonzert und den beiden Symphonien Nr. 2 und 5 abspeisen. Die von Wolfgang Rihm und anderen Kennern geschätzte Nr. 4 kommt in Konzerten nicht vor. Diese Zaghaftigkeit schadet Sibelius mehr als die drei Druckseiten von Adornos polemischer Glosse.

Volker Tarnow, „Sibelius“, Henschel-Bärenreiter, 288 S., 24,95 Euro; Joachim Brügge, „Jean Sibelius. Symphonien und Symphonische Dichtungen“, C. H. Beck, 124 S., 7,90 Euro

 

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