Im Fundbüro des Rock

Unveröffentlichte BBC-Aufnahmen der Beatles und die Rückkehr der Rolling Stones in den Londoner Hyde Park – Blick zurück auf zwei englische Bands, die die Welt bewegten
Christian Jooß |
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Ob es wirklich das Originalhemd war, das weiße Flatterteil aus dem kollektiven Pop-Gedächtnis, das Mick Jagger im Juli diesen Jahres im Londoner Hyde Park für „Honky Tonk Woman“ aus dem Schrank kramte? Fast auf den Tag genau nach 44 Jahren kehren die Rolling Stones für zwei Auftritte zurück zu einem mythischen Moment ihrer Karriere. „Sweet Summer Sun“ heißt die jetzt erschienene Konzert-DVD.

Ab einem bestimmten Rockalter hat jeder seine eigene Memory Lane in sich. In diesem November glüht die Erinnerung an zwei britische Bands, die dem Rock eine Adrenalinspritze in den Herzmuskel jagten. „On Air – Live At the BBC Volume 2“ heißt das Doppelalbum mit unveröffentlichtem Material der Beatles, eingespielt für die BBC zwischen August 1963 und November 1964. 41 Songs, ergänzt um vier Interviews mit den Boys von 1965.

Die Beatles waren durch die Hamburger Schule gegangen, hatten gerade noch Gigs in ganz England abgeklappert. Was für eine Band, die hier mit minimalen Overdub-Möglichkeiten ihre Songs live und Mono auf Band bringt! Woher der gerade mal 20jährige George Harrison in „Till There Was You“ das Wissen und die präzise Lockerheit für die Akkordmodulationen nimmt – ein Rätsel. Ein Erlebnis, zu hören, wie sich aus der Verehrung für Tamla Motown, den frühen Rock’n’Roll und Country-Spuren der Liverpool-Beat schält. In Little Richards „Lucille“ versucht Ringo einen so waghalsigen Break, dass die Band gerade noch so auf den Füßen landet. Instinktiver Schrei der entsetzten Begeisterung im Hintergrund – weiter geht’s im Beat. Und wie diese Band über der Basslinie in „From Me To You“ so leicht in den Knien federt wie zeitgleich Cassius Clay, zeigt, die verblüffende Fähigkeit, Hits immer noch einmal so zu spielen, als wäre es das erste Lachen der Entdeckung.

Nicht, dass man noch Beweise für die Könnerschaft, die sich doch nur aus den Platten, die über diesen oder jenen Kanal importiert wurden, bräuchte. Aber bei Nummern wie „Memphis Tennessee“ hört man, wie die Vier ihre Rock’n’Roll-Verschlamptheit mit einer Sicherheit dosieren, dass man ahnt, wie den US-Vätern vor Konkurrenzwut das Messer in der Tasche aufging. Im direkten Vergleich waren die Beatles 1964 technisch besser, als es die Stones je werden wollten. Beide Soundcharaktere bewegten die Welt.

Zu „Midnight Rambler“ holen die Stones 2013 Mick Taylor auf die Bühne. Jenen Gitarristen, der am 5. Juli 1969 den ersten Auftritt mit der Band hatte. Zwei Tage war es her, dass man Brian Jones auf dem Grund seines Swimming Pool gefunden hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Stones den Unsteuerbaren schon aus der Band geworfen. Das Konzert wurde zur Gedenkveranstaltung. Merkwürdig, sakral, aufgekratzt nervös und gleichzeitig von endzeitlich meditativem Chaos durchdrungen. Jagger rezitierte ein Gedicht von Percy Bysshe Shelley, Schmetterlinge wurden aus Pappkartons geschüttelt – Hell Angels als Ordner der Apokalypse. Und dann kam bei „Sympathy For The Devil“ alles auf die Bühne, was London an afrikanischen Drummern aufzubieten hatte. Heute beleuchten bengalische Feuer Mick, den Teufel.

Wie damals, nur etwas korpulenter und im ungeschickt sitzenden Sakko wirkt Taylor, als würde ihn die Menschenmasse vor ihm überfordern. Zum Glück kann er sich an seiner Les Paul festhalten. So passiert es ihm, wie einst, als er Stones-Mitglied war, dass sein singendes Solo, das nie perfekt klingt, es aber ist, die Band auf eine andere Energiestufe schiebt. Ron und Keith, die sich schon lange so gemütlich eingerichtet haben, müssen mitmachen und gucken erstaunt. Die zusammengeklopften Bühne von einst ist heute ein High-Tech-Tempel, auf dessen Video-Screen-Animationen man gut verzichten kann. Sichtbar wird trotzdem die unzerstörbare Lebendigkeit, dieser Band, deren Kraft auch immer im furchteinflößenden Bewusstsein liegt, dass ohne das Schlagzeug von Charlie Watts die Gruppe der Egozentriker jeden Moment auseinanderfallen könnte.

Beatles: „On Air – Live At The BBC Volume 2“ (Universal); The Rolling Stones: „Sweet Summer Sun. Hyde Park Live“ (Eagle Vision)

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