Hidalgo-Festival: Wiedergeburt im Club
München – Es wird oft beklagt, Liederabende seien schlecht besucht und würden nur noch ein älteres Publikum anziehen.
Diesem verbreiteten Pessimismus lässt sich zwar das ausverkaufte Nationaltheater entgegenhalten, wenn Anja Harteros, Christian Gerhaher oder Jonas Kaufmann während der Opernfestspiele Schubert, Schumann und Richard Strauss singen. Aber es stimmt, dass es schwierig ist, Karten zu verkaufen, wenn keine Opernstars Klavierlieder interpretieren.
Hidalgo-Festival im Bahnwärter Thiel
Womöglich liegt es an dem, was neudeutsch "Format" heißt. Beim Hidalgo-Festival experimentiert nun schon im dritten Jahr eine Gruppe junger Enthusiasten um Tom Wilmersdörffer mit ungewöhnlichen Liederabenden an Schauplätzen der Jugendkultur wie etwa dem Bahnwärter Thiel. Das ist ein Techno-Club im Niemandsland am Ende der Ruppertstraße im Schlachthofviertel, zusammengesetzt aus aufgetürmten Containern und alten Straßenbahnen, die mit Grafitti dekoriert sind.
Der Club ist im Moment natürlich zu, die Gastronomie mit allerlei südländischen Garküchen hat aber offen. Hier wird auch nicht angeraunzt, wenn man es wagt, ein Getränk ins Konzert hineinnehmen zu wollen. Eigentlich hätte es nur noch eines Türstehers bedurft, um das Festival-Thema möglichst authentisch umzusetzen, denn diesmal dreht sich alles um das Scheitern.
Das ist eine weise Entscheidung. Franz Schubert sagte, dass er keine lustige Musik kenne, und fast alle romantischen Kunstlieder handeln vom Unglück, der Zurückweisung oder liebeskranken Totengräbern.
Mehr als Gag und Gesellschaftsspiel
Beim Auftaktkonzert sang die am Nürnberger Staatstheater engagierte Andromahi Raptis Lieder des nicht als Frohnatur bekannten Renaissance-Komponisten John Dowland und böse-melancholische Songs von Kurt Weill. Dazu gab es einen "Beichtstuhl des Scheiterns": Das Publikum sollte sich zwischen den Liedblöcken mündlich und per WhatsApp über dieses Thema unterhalten. Eine Auswahl der Antworten wurde auf eine Leinwand projiziert, verbunden mit lustigen Memes, um die Stimmung nicht völlig zu verdüstern.
Das hört sich nach Gag und Gesellschaftspiel an. Aber es ist doch mehr. Die Frage, wann man zuletzt bei eigenverschuldetem Scheitern einem Fremden die Pest an den Hals gewünscht habe, ist auch die kürzestmögliche Interpretation des Liedes des Seeräuber-Jenny aus der "Dreigroschenoper", die vom Beschuss der Stadt durch ein Schiff mit 60 Kanonen und der anschließenden Hinrichtung aller Bewohner träumt.
Auf die Frage nach einer erleichternden Niederlage antwortete ein Besucher, er habe sich letztes Jahr erfolglos bei Wirecard beworben. Falls WhatsApp womöglich auch von den Veranstaltern erfunden wurde, war es jedenfalls ein sehr guter Einfall, um zu zeigen: Scheitern ist relativ.
Es lohnt sich, die steife Konzertform zu verändern
Die Musik kam bei alledem nicht zu kurz. Die Sopranistin und der Pianist Jonathan Ware interpretierten die Dowland-Lieder dezidiert unhistorisch im Stil der beliebten italienischen Sammlung "Arie antiche". Aber das macht die Musik Dowlands humaner als ihre authentische Austrocknung. Die Weill-Songs profitieren davon, wenn sie gesungen und nicht im Diseusen-Stil halb gesprochen werden. Denn erst dann kommt das berühmte "Hoppla" der Seeräuber-Jenny richtig trocken heraus. Auch das Lied vom Surabaja-Johnny gewinnt mit liedhafter Gestaltung an menschlicher Größe.
Niemand wird nun verlangen, dass der Hidalgo-Schirmherr Christian Gerhaher demnächst mit performativem Beiwerk und angeschalteten Smartphones Schumann interpretiert. Aber solche einfallsreichen Konzerte zeigen, dass es sich lohnt, über die Inhalte der Lieder nachzudenken und die steife Konzertform zu verändern. Nicht immer, aber immer öfter. Und unsereiner kommt so auch mal in den Bahnwärter Thiel, ohne an der harten Tür zu scheitern.
Das Hidalgo-Festival geht noch bis zum 18. September, größtenteils ausverkauft. Am Samstag treten die Künstler auf Plätzen in der Stadt auf. Infos unter www.hidalgofestival.de
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