Gergiev dirgiert Bruckner und Schostakowitsch
MÜNCHEN - Die Passacaglia aus dem Violinkonzert Nr. 1 lässt sich als Symbol für das Leben und Wirken von Dmitri Schostakowitsch in der Sowjetunion verstehen. Die Basslinie schreitet im Orchester unerbittlich mit Notwendigkeit voran – wie nach damaliger Überzeugung der historische Fortschritt, den Sozialismus fest im Blick. Die einzelgängerische Solo-Violine kommentiert den Marschtritt des Kollektivs, pflegt ihre individuellen Marotten und gibt zeitweise auch ihren Widerstand auf, um sich zuletzt befreit im nächsten Satz ganz ohne Orchesterbegleitung auszutoben.
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Gewiss: Der historische Zusammenhang und das Autobiografische sind eine Last, unter der viele Schostakowitsch-Aufführungen ächzen. Spielt man das vom Komponisten in den späten 1940er Jahren aus Angst vor den Musikfunktionären für die Schublade komponierte Werk aber als absolute Musik, dann fehlt etwas – zumindest so lange, wie sich Menschen noch an die schwierige Existenz eines Künstlers in der grauen Spätzeit des Stalinismus erinnern.
Der Geiger Leonidas Kavakos versuchte es im dritten Programm dieser Saison mit den Münchner Philharmonikern unter Valery Gergiev. Er spielte blitzsauber, mit Glanz und atemberaubender Perfektion. Aber seine Deutung war zu schön, um wahr zu sein. Es fehlte die Seele, und die besteht bei diesem Werk auch in Nebengeräuschen und der Gewalttätigkeit, mit der ein Geiger seinem Instrument die Kadenz und die beiden burlesken Sätze abnötigt.
Proben lohnt sich doch
Der Symphonie Nr. 6 von Anton Bruckner sah man nach der ärgerlichen Eroica der vergangenen Woche mit gemischten Gefühlen entgegen. Aber Gergiev überraschte positiv. Er scheint mit dem Orchester der Stadt an diesem vergleichsweise selten gespielten Werk gearbeitet zu haben und die Philharmoniker an ihm.
Die Philharmoniker brachten den böhmischen Charakter der Musik, ihren leichten Hauch von Folklore elegant heraus. Der Klang war licht und hell, massige Stellen kamen nicht überlaut, sondern durchhörbar. Das dynamische Spektrum wirkte viel reicher als früher, und Gergiev ließ Leises nicht nur als Spezialeffekt zu.
Im Sommer war die gleiche Symphonie unter Mariss Jansons mit den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen zu hören. Mit dieser Aufführung im Ohr vermisste man im Gasteig nichts. Bestimmte Details, etwa die Schichtung der Themen in den letzten Takten des Finales, kam am Samstag im Gasteig viel klarer heraus. Wenn Gergiev weiter dranbleibt, kann sein von vielen skeptisch beäugter Bruckner-Zyklus doch was werden: eine Deutung, die den mystischen Nebel und katholischen Weihrauch verbannt und ganz die bodenständige Kraft der Musik betont.
Bei Bruckner kann es heilsam sein, auf das Autobiografische zu verzichten. Bei Schostakowitsch entsteht so vorläufig noch kein Mehrwert.