Gegenseitiges Vertrauen

Es ist knapp 25 Jahre her, da erwies Daniel Barenboim Wilhelm Furtwängler eine besondere Ehre: Für den Film "Taking Sides" dirigierte er Beethoven, koordinierte das moderne Orchester aber möglichst genau nach einem historischen Konzertmitschnitt Furtwänglers, an dem er sich gleichzeitig über Kopfhörer orientierte.
Warum dieses Experiment heute noch interessant ist? Weil Barenboim, mittlerweile über 80 Jahre alt, romantische Symphonien im Geiste jenes legendären Dirigenten musiziert, mit dem er als Elfjähriger tatsächlich noch zusammen spielen konnte. Wohlgemerkt: im Geiste, denn Barenboims Interpretation der Symphonie Nr. 4 e-moll von Johannes Brahms, die er in der Isarphilharmonie mit dem West-Eastern Divan Orchestra realisiert, ahmt nicht etwa Furtwänglers Aufnahme von 1949 nach.
Freiheit und Vertrauen
Barenboim hat seinen eigenen Kopf. Aber die Art und Weise des Musizierens erinnert doch an Erzählungen über eine mittlerweile eher selten gewordene Haltung des Musizierens. Barenboim dirigiert die jungen Musikerinnen und Musiker des Projektorchesters, das er - interessanterweise ziemlich zeitgleich zu seinem Furtwängler-Experiment - selbst gegründet hat, weniger, als dass er sie voller Vertrauen in fast vollständiger Freiheit spielen lässt. Mit minimalen Bewegungen, die selbst auf einem guten Platz teilweise nicht zu sehen sind, gibt er nur einen Rahmen vor, innerhalb dessen sich der balsamische instrumentale Reichtum verströmt wie in einem Flussbett.
Das Orchester versammelt israelische, palästinensische, arabische und einige türkische und iranische Mitglieder, die abgesehen von der völkerverbindenden politischen Botschaft eine einzige Mission eint: so schön zu klingen wie möglich. In der Symphonie Nr. 4 A-Dur von Felix Mendelssohn Bartholdy, der "Italienischen", kommt noch eine makellos präzise Artikulation dazu: Bewusste Staccati im muskulösen Streicherkörper treffen auf eine plastische Rhythmik der Holzbläser, die zusammen in orgelgleicher, doch atmender Geschlossenheit erscheinen und einzeln mit stillen Soli ans Herz rühren.
Die phänomenale Durchhörbarkeit ergibt sich, weil die jungen Menschen einander zuhören und im Zweifel dem jeweils Anderen den Vortritt lassen. Auch für diese Kunst des Ensemblespiels kann man ein Vorbild benennen, nämlich Sergiu Celibidache, mit dem Daniel Barenboim nicht nur in München oft zusammengearbeitet hat und von dem er nach eigener Auskunft viel lernen konnte.
Stehende Ovationen
Wenn in Mendelssohns "Italienischer" die Violinen wie mit einem plötzlich durchbrechenden Sonnenstrahl auf einen Fingerzeig Barenboims reagieren oder in der Symphonie Nr. 4 von Johannes Brahms die Hörner ans Grandiose grenzende Auftritte haben, liegt es nahe, an das Mantra zu denken, das Celibidache seinerseits von Furtwängler übernommen hatte: Entscheidend sei beim Musikmachen, "wie es klingt".
Gerade bei Brahms aber zeigt sich wiederum ein gravierender Unterschied: Unter Barenboims Händen klingt die ohnehin schon so entsagungsvolle Vierte weitaus melancholischer. Allein der schier ewiglich in der Luft schwebende Auftakt scheint anzuheben, von vergangenen Zeiten zu erzählen. Barenboims Dirigieren heute, das mutet an wie Wilhelm Furtwänglers Geist aus Sergiu Celibidaches Händen - nicht nur ein Geschenk für die jungen Musikerinnen und Musiker, sondern auch für das Publikum.
Selten sind die stehenden Ovationen so berechtigt wie an diesem denkwürdigen Abend in der Isarphilharmonie.