Ganz ohne Stimme

Auf seinem neuen Album „Amazing Game“ bietet der italienische Sänger und Komponist Paolo Conte eine Vielzahl an Stilrichtungen von Jazz über Chanson und Cabaret bis hin zu diversen süd- und lateinamerikanischen Elementen an.
Das Besondere an Contes Album sind die Instrumentalstücke, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte entstanden sind. Eigentlich ist Conte als Sänger hier gar nicht präsent. Trotzdem funktioniert das Album als Ganzes überraschend gut.
AZ: Herr Conte, Ihr neues Album „Amazing Game“ ist ein reines Instrumentalalbum. Das irritiert zunächst. Ein Album von Paolo Conte ohne seine markante Stimme? Ist das nicht wie das Kolosseum ohne Löwen?
PAOLO CONTE: Es ist richtig, dass Worte wichtig sind und meine Stimme meiner Musik einen bestimmten Charakter verleiht. Ich hoffe jedoch, dass die Musik auch ohne meine Stimme als meine Musik erkennbar ist und dass sie auch ohne Worte von Bedeutung ist.
Warum haben Sie erst jetzt ein Instrumentalalbum herausgebracht?
Ich denke, dass der Instrumentalmusik in Italien weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vermutlich war das der Grund, warum ich mir mit der Veröffentlichung eines reinen Instrumentalalbums so viel Zeit gelassen habe. In gewisser Weise fühlte ich mich auch gezwungen, mich an das Stereotyp des italienischen Songschreibers zu halten.
Bei Stücken wie „La Danse“ und „Sharon“ sind Sie in Ihrem Album weder als Sänger noch als Musiker beteiligt. Aber Sie haben die Stücke geschrieben und arrangiert.
Ja, genau. Ich habe alle Stücke geschrieben. Bei „Sharon“ habe ich zwar Massimo Pitzianti gebeten, Piano zu spielen. Aber ich habe deshalb nicht das Gefühl, auf dem Stück weniger präsent zu sein.
Sie betonen, dass es sich bei einigen Stücken nicht um Free Jazz handele. Warum?
Im Free Jazz gibt es bestimmte Strukturen. Auf dem Album sind einige Stücke zwar „free“. Aber es handelt sich um absolute Improvisation ohne die Strukturen, die typisch für den Free Jazz sind.
Das gesamte Album stellt den Musiker Paolo Conte in den Vordergrund. Steht die Musik für Sie grundsätzlich an erster Stelle, während die Texte trotz aller Sorgfalt, die Sie dafür aufwenden, als Pflichtprogramm hinzukommen?
Rein technisch betrachtet, stimmt es, dass ich zuerst die Musik schreibe. Danach gibt es aber immer gute Gründe, Texte hinzuzufügen. Das empfinde ich nicht als Zwang. Die Entwicklung eines Musikstücks zu einem Song ist wie der Wandel von Schwarzweiß zu Farbe. Die Worte verleihen dem Stück Farbe.
Verlangen bestimmte Musikstile und bestimmte musikalische Strukturen nach einem bestimmten textlichen Thema?
Ich schreibe, wie gesagt, immer zuerst die Musik. Und dann versuche ich tatsächlich, ein Thema zu finden, das zu dieser Musik passt.
In dem Begleitheft Ihres neuen Albums sind auch zahlreiche Ihrer neuen Bilder zu sehen. Welche Technik liegt diesen Bildern zugrunde?
Das sind Collagen. Ich habe große Bilder mit Wasserfarben gemalt und später daraus einzelne Stücke herausgeschnitten, die ich besonders interessant fand. Und diese Stücke habe ich dann für die Bilder zusammengestellt.
Sie haben jedem Stück Ihres Albums ein bestimmtes Bild zugeordnet?
Zwischen den einzelnen Bildern und Titeln der Stücke besteht in der Tat ein Zusammenhang. Aber überwiegend handelt es sich um eine zufällige Zuordnung, die ich lediglich für die Veröffentlichung dieses Albums vorgenommen habe.
Ist eine Ausstellung dieser Collagen vorgesehen?
Nein, ich habe etwas Ähnliches zu meinem Album „Razmataz“ gemacht. Damals gab es tatsächlich einige interessante Ausstellungen. Aber ich denke nicht, dass es dieses Mal dazu kommen wird.
Sie sind nicht nur Musiker, Texter, Sänger und Maler, sondern auch Jurist. Wie bekommen Sie das alles unter einen Hut?
Meine juristische Laufbahn habe ich vor langer Zeit beendet. Der Musiker hat den Juristen überholt. Alle meine übrigen Tätigkeiten geben mir auf unterschiedliche Art und Weise Zufriedenheit. Das Malen finde ich beispielsweise wesentlich entspannender als das Komponieren oder das Musikmachen.
Mit anderen Worten, wenn Sie Ihren Lebensunterhalt mit der Malerei bestreiten könnten, würden Sie die Musik komplett aufgeben.
Interessante Überlegung. Womit ich nicht sagen will, dass das Geld für mich besonders wichtig wäre. Ich versuche nur gerade, mir ein anderes Leben vorzustellen. Und das wäre gewiss ein interessantes Abenteuer. Aber nein, ich könnte niemals die Musik aufgeben. Ich würde doch immer wieder das Bedürfnis haben, Musik zu schreiben und zu spielen.
Wann haben Sie Ihre Liebe zur Musik und insbesondere zum Jazz entdeckt?
Bereits als Kind. Meine Eltern hatten einige Platten. Auch Jazz, obwohl Jazz im damals faschistischen Italien verboten war.
Dennoch haben Sie zunächst als Jurist gearbeitet. Warum haben Sie sich nicht von Anfang an auf eine Karriere als Musiker konzentriert?
Ich habe keine klassische Musikausbildung genossen und ich habe nie Musik an der Universität studiert, sondern mir alles selbst beigebracht. Als Kind wollte ich Medizin studieren, aber mein Vater hat als Notar gearbeitet, so dass ich am Ende ebenfalls Jura studiert habe. Aus familiärer Bequemlichkeit könnte man wohl sagen.
Lässt sich Ihre Arbeit als Jurist und als Musiker verbinden?
Grundsätzlich eher nicht, aber in einigen meiner Texte lassen sich Spuren meiner Erfahrungen als Jurist entdecken.
Bestimmte Geschichten?
Bestimmte Figuren.
In Ihrem Gesamtwerk zeigt sich Ihre Neigung zu Jazz, Chanson und diversen süd- und lateinamerikanischen Musikstilen. Woher stammt diese Neigung?
Nun, mir gefallen alle diese Stilrichtungen. Und die süd- und lateinamerikanischen Rhythmen passen besonders gut zur italienischen Sprache.
Im Gegensatz zum Blues?
Genau, man kann keinen italienischen Blues bringen. Das ergibt keinen Sinn.
Und worauf beruht Ihre Vorliebe für das französische Chanson?
Das beruht einfach darauf, dass es im Bereich des französischen Chansons sehr viel gute Musik, gute Texte und gute Interpreten gibt.
Sie haben schon öfter behauptet, dass Frauen weniger als Männer Jazz verstehen. Sind Sie immer noch davon überzeugt?
Ja.
Wie kommen Sie darauf?
Ich greife immer gern auf ein bestimmtes Bild zurück: Wenn Männer ein Auto betrachten, dann achten sie auf den Motor und einige technische Aspekte. Frauen legen dagegen in erster Linie auf das Äußere Wert, die elegante Form der Karosserie und die Farbe des Autos. Und wenn man Jazz verstehen möchte, muss man sich mit dem “Motor“ und der Struktur der Musik auseinandersetzen. Da genügt es nicht, sich nur auf die Äußerlichkeiten zu konzentrieren.
Erwarten Sie, dass Ihren vielen weiblichen Fans Ihr neues Album weniger gefällt, da es doch ziemlich viel Jazz bietet?
Schon möglich, dass einige Stücke des Albums den Frauen weniger gefallen könnten. Aber ich bin zuversichtlich, dass andere Stücke sehr gut ankommen werden. Frauen haben ein Gespür für gute Melodien. Und das ist auch wichtig, denn ich lege großen Wert auf mein weibliches Publikum. Außerdem möchte ich betonen, dass es sich insbesondere bei den Improvisationen überhaupt nicht um Jazz handelt. Wenn man Jazz spielt, dann „riecht“ man auch den Jazz, dann „riecht“ man die Strukturen. Und hier „riecht“ es überhaupt nicht danach. Aber zugegebenermaßen liegt Swing in dem Stück „Changes All In Your Arms“.
Sie haben eine ausgeprägte Vorliebe für die Musik der 20er und 30er Jahre. Haben Sie das Gefühl, in die falsche Ära hineingeboren worden zu sein?
Ja, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn möglicherweise habe ich dadurch die richtige Distanz zu diesen Jahren, um sie eingehend beurteilen und würdigen zu können.
Kommt es Ihnen dabei darauf an, diese Musik am Leben zu erhalten?
Ja, aber ich möchte auch hervorheben, dass ich meine Liebe zu dieser Musik nicht als Nostalgie verstehe. Denn Nostalgie bezieht sich typischerweise auf selbst erlebte Zeiten. Ich interessiere mich dagegen für eine Zeit, die ich selbst nicht erleben konnte.
Und Sie geben Ihrem Publikum die Gelegenheit, daran teilzuhaben.
Stimmt. Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass die jüngere Vergangenheit sehr viel schneller altert als die weiter zurückliegende Vergangenheit.
Im kommenden Januar werden Sie 80. Beschäftigt Sie das Alter oder nehmen Sie es gelassen?
Ich bemühe mich, es gelassen zu nehmen. Aber das zunehmende Alter ist nun mal eine unabänderliche Tatsache und geht auch einher mit zunehmenden physischen Problemen.
Offenbar ist das jedoch nichts, was Sie davon abhalten könnte, weiterhin Musik zu machen?
Natürlich hoffe ich, dass ich noch mehr Musik machen kann. Es ist mir immer ein Vergnügen, Musik zu machen.