Ganz groß: Grigory Sokolov im Herkulessaal
München - So tief versenken sich manche Pianisten an ihrem Instrument, dass sie die Tasten fast mit der Stirn berühren, andere wiegen sich wie in Trance; Alfred Brendel war berühmt für sein phantastisches Mienenspiel. Bei Grigory Sokolov ist davon nicht wenig, sondern gar nichts zu sehen.
Immer gleich, immer vollständig unbewegt, betritt er die Bühne des Herkulessaals, setzt sich, spielt, ohne auch nur einmal das Gesicht zu verziehen, geht wieder ab. Und doch lohnt es sich, die Augen offenzuhalten. Denn gerade die Kluft, die aufreißt zwischen dem, was man sieht, und dem, was man hört, ist in ihrer Krassheit höchst faszinierend.
Da ist zunächst die unendliche Variabilität der Erscheinungen. In den vier Duetten BWV 802 bis 805 von Johann Sebastian Bach, kontrapunktischen Kleinodien, wird jede Wiederkehr eines Motivs in ein neues Licht getaucht. Gleichzeitig, und das ist das Großartige am Spiel Grigory Sokolovs, ersteht auch in der Partita Nr. 2 c-Moll jeder einzelne Tanzsatz in erhabener Einheit: also eigentlich ein Widerspruch von Unterschied und Gleichheit. Schwer zu sagen, wie der mittlerweile 74-jährige das macht. Es hat mit der unnachgiebigen Strenge zu tun, mit der er das Tempo hält, mechanisch, aber wohlgemerkt nicht mechanistisch: der Motorik der Musik Bachs absolut angemessen.
Jeder Finger wird zu einer Person
Im Gegensatz zu manchen empfindelnden Interpreten, holt Sokolov auch in den insgesamt sieben Mazurken op. 30 und op. 50 von Frédéric Chopin jedes Detail an die Oberfläche, skandiert jeden einzelnen Rhythmus aus, der Ton hat etwas marmorn-erhabenes; die Begleitung tritt nicht, wie meist, in den Hintergrund, im Gegenteil, man kann in jedem Akkord die einzelnen Töne unterscheiden, wie mit Kontrastmittel hervorgehoben: Die Musik spricht gleichsam, singt, und zwar mit Vokalen, aber auch Konsonanten.
Meist gibt es in einem Konzert einen Höhepunkt, hier sind es mehrere. Die "Waldszenen" von Robert Schumann gehören dazu, weil Grigory Sokolov auch in diesen scheinbaren Genrestücken die - wiederum - kontrapunktische Selbständigkeit der Stimmen in Perfektion verwirklicht. Jeder der Finger wird zu einer Person, die mit den anderen harmoniert oder sich in wirkungsvollst knirschenden Dissonanzen reibt. Zusammen mit der mehr als einer Handvoll Zugaben, endend mit dem in überirdischer Schlichtheit zum innigen Leuchten gebrachten Choralvorspiel "Ich ruf´ zu dir, Herr Jesu Christ" BWV 639 von Bach, summiert sich das alles zu einer umfassenden Enzyklopädie der Klavierkunst. Groß ist das, ganz groß.
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