Kritik

Fans liegen sich in den Armen: So war der Tocotronic-Auftritt in der Tonhalle

Wie die Diskursrocker rund um den Gitarristen und Sänger Dirk von Lowtzow das Münchner Publikum begeistern
von  Moses Matthias Wolff
Tocotronicin der Tonhalle.
Tocotronicin der Tonhalle. © Jens Niering

Quasi exakt drei Wochen nach dem dreißigsten Jahrestag des Erscheinens ihrer ersten CD "Digital ist besser" geben sich Tocotronic, die wichtigsten Vertreter der Hamburger Schule und damit Strohmänner des Diskursrock im von ihnen höchst geschätzten München die Ehre. Der Sänger mit dem Nachnamen, den keiner aussprechen kann, Dirk von Lowtzow, ist, wie die gesamte Band, die Ruhe selbst.

Er begrüßt die vor Glück pulsierenden Fans mit: "Bon Soir, Super Sexy Munich. Hello Roxy Munich. Wir begrüßen euch auf das aller-, aller- allerherzlichste! Geht's euch gut?" Tosender Applaus. "Schaut so aus."

Die Bühne wird indigoblau beleuchtet und der erste Song des Abends ist ein nachdenklicher Titel über den Abschied, inspiriert von "Die Brüder Löwenherz" von Astrid Lindgren, jenes zeitlose Märchen über den Kampf zwischen Tapferkeit, Furcht, Leben und Sterben. Das Lied heißt "Der Tod ist nur ein Traum", direkt gefolgt von "Bleib am Leben": zwei divergente Themen, aber in ihrer Tiefe sehr ähnlich.

Tocotronic-Konzert: Eine wunderbar meditative Stille

In beiden Fällen setzt sich der Text mit der eigenen Existenz auseinander, die Zerbrechlichkeit des Daseins samt Akzeptanz gegenüber Vergänglichkeit, mit dem gleichzeitigen Ziel, niemals aufzugeben, und der Erkenntnis, dass der Tod kein Ende bedeuten muss, sondern möglicherweise nur als Teil eines Traumes in den Übergang zu einer anderen Welt gesehen werden kann.

Tocotronic mit dem Gitarristen und Sänger Dirk von Lowtzow in der Tonhalle.
Tocotronic mit dem Gitarristen und Sänger Dirk von Lowtzow in der Tonhalle. © Jens Niering

Damit zaubert die Band eine wundersame, fast meditative Stille und Tiefe für den Abend. Es gelingt ihnen, wie immer, diese besondere Stimmung durchgehend zu erhalten. An manchen Stellen könnte eine fallende Stecknadel zu hören sein, so aufmerksam und ergriffen lauschen die Menschen. Einzig das Oszillieren der Fahnenschwenkerinnen, die zu Pfandbecherspenden für gute Zwecke aufrufen, ist als Bewegung unterhalb der Bühne zu sehen.

Gedankenspiele auf dem Heimweg: Organisiertes Massenküssen

Aus Dankbarkeit für den jahrzehntelangen Erfolg, an dem schließlich auch die treue Anhängerschaft beteiligt war, wird eben jene im Lauf der Show auf verschiedene Weisen aus der Reserve gelockt: Nachdem sie für sich selbst klatschen durften, ermutigt sie der Frontmann, jede neben sich stehende Person zu umarmen oder ihr zumindest die Hand zu reichen.

Einige Nummern später folgt die Bitte, nach dem kurzen Kennenlernen, nun zu den Zeilen "Du streichst mir über mein Gesicht, gegen die Welt, gegen den Strich. Meine Liebe, dein Verzicht. Gegen die Welt, gegen den Strich" Zärtlichkeiten unter den Zuschauerinnen und Zuschauern auszutauschen.

Dies geschieht nur bedingt, allerdings überlegen auf dem Nachhauseweg zum Ostbahnhof ein paar junge Leute übermütig, beim nächsten Konzert als Flashmob die Band durch ein organisiertes Massenküssen aus der Reserve zu locken.

Würdevoller Ersatz für das Trio

Mitte Februar erschien das neue und sehr gelungene Album "Golden Years". Jede Phase dieser Gruppe war stets geprägt von einer eigenen Stimmung und blieb doch bis dato gleichbleibend vertraut. So verhält es sich auch bei den Live-Auftritten, nur ist das Fehlen des langjährigen amerikanischen, schweinscoolen Bandmitglieds Rick McPhail durchaus spürbar. Er hat sich im vergangenen Jahr aus persönlichen Gründen eine Pause gegönnt, wie lange die dauert, steht in den Sternen.

Neben ihrer ursprünglichen Originalbesetzung als Trio haben sie einen würdevollen Vertreter für McPhail gefunden: Felix Gebhard, einigen bekannt durch Konzerte der Einstürzenden Neubauten, der beeindruckend an der Blues Harp zu "Sie wollen uns erzählen" glänzt, ein hochpolitischer Text, ebenso wie "Aber hier leben? Nein danke."

Viel Kraft zwischen Bühne und Zuhörerschaft

Ein Satz, der seit Mitte Oktober auf ganz besondere Weise das Münchner Stadtbild prägt: Im Kunstbau des Lenbachhauses findet derzeit - noch bis kommenden Sonntag - eine gleichnamige Ausstellung statt, die den Fokus auf das Politische im Surrealismus lenkt. "Aber hier leben?", fragt der Sänger, und aus dem noch lauteren, vielstimmigen Echo der Anhängerschaft erhebt sich die entschiedene, mit unmissverständlicher Klarheit geäußerte Erwiderung: "Nein, danke!" Von der Natur des Geistes beseelt, in edler Selbstverleugnung das Eigene dem Höheren, ja Allgemeingültigen zu schenken wissend, trifft diese Zeile mitten ins Herz.

"Gerade in München, wo die historischen Schatten des vergangenen Jahrhunderts mit beunruhigender Deutlichkeit auf die Gegenwart fallen, entfaltet sich die Verflechtung von künstlerischer Revolte und politischer Resistenz", sagt der kuratorische Mitarbeiter Johannes Stanislaus vom Lenbachhaus, "Bedauerlicherweise sind solche antifaschistischen Kampfansagen heute wieder mehr als notwendig. Wir danken Tocotronic für den Titel der Ausstellung."

Die Kraft zwischen Bühne und Zuhörerschaft wird zur Symbiose, und wieder einmal wird klar, dass Kunst und Kultur unbedingt frei sein muss, insbesondere in unserer durchwachsenen Zeit. Einer der vielen tröstenden Sätze von Dirk von Lowtzow lautet: Am Ende wird alles gut werden.

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