Die Freisetzung unerhörter Energien
Generalproben sind Arbeitsproben. Kritiker lassen die Musikerinnen und Musiker dabei in Ruhe. Geschrieben wird üblicherweise über das vor dem Publikum erzielte Ergebnis, nicht der Weg, der zu diesem Ziel führt. Daher hält man sich von Proben fern - außer, man wird ausdrücklich dazu eingeladen.
Wegen des Festakts der Bayerischen Staatsoper zum 150-jährigen Jubiläum der Münchner Opernfestspiele konnte der hier Unterzeichnende die Aufführung der „Pastorale“ mit dem Münchener Kammerorchester unter Enrico Onofri am Donnerstag leider nicht hören. Aber er hätte sie gerne gehört. Erstens, weil ihm die bisherigen Beethoven-Deutungen des Associated Conductors gefallen haben, zweitens, weil das Orchester Beethovens mittlere Symphonien Nr. 5, 6 und 7 im Juli für das Label harmonia mundi aufnimmt und vorerst keine weiteren Aufführungen dieser Werke in München geplant sind. Und drittens, weil die „Pastorale“ der lyrische Sonderfall des Brio-Komponisten Beethoven ist. Und da ist es immer interessant, wie ein Dirigent damit umgeht.
Natürlich fehlt bei einer Generalprobe im leeren Prinzregenten der allerletzte Schliff und die Interaktion mit dem Publikum. Aber was Onofri an diesem Spätnachmittag aus dem Orchester und aus Beethovens Partitur herausholte, war wirklich erstaunlich. Ich spare gerne mit Superlativen, aber in diesem Fall muss ich sagen: Es war die überzeugendste „Pastorale“, die ich je gehört habe.
Unter Starkstrom
Der 58-jährige Italiener setzte die Symphonie mit sehr raschen Tempi sozusagen unter Starkstrom. Er ließ sie spielen, als sei die „Pastorale“ die hochdramatische Fünfte oder rhythmisch extreme, ekstatische Siebte. Beethovens Sechste erwies sich, ohne ihren Charakter auch nur im Mindesten zu verlieren - nicht als der Sonderfall erhabener Langeweile, der sich bei gelasseneren Dirigenten leicht einmal einstellt.
Dass eine Beschleunigung - die im Übrigen den per Metronomzahlen überlieferten Vorstellungen Beethovens entspricht - den ersten drei Sätzen inklusive Gewitter keine Gewalt antut, war schon nach wenigen Takten klar. Auch die „Szene am Bach“ kann ein Fließen vertragen - schließlich ist es keine „Szene am Tümpel“. Im Scherzo und beim Gewitter verstehen sich rasche Tempi ohnehin von selbst.

Aber was ist mit dem gebetsartigen „Hirtengesang“ und seinen „wohltätigen, mit Dank an die Gottheit verbundenen Gefühle“ des Finales? Auch das funktionierte, vor allem auch, weil eng mensurierte, kleine Posaunen im historisch informierten Stil verwendet wurden, die den Klang des Orchesters färben, statt ihn romantisch zu verklumpen.
Eine „Pastorale“ für „Pastorale“-Verächter
Bei Onofri wurde aus diesem schwierig zum Klingen zu bringenden Finalsatz eine dem Leben zugewandte Feier. Und auch das widerspricht dem Charakter der Musik nicht nur nicht, sondern legt einen bisher verborgenen Aspekt frei, der vor allem jene Hörer ansprechen wird, die bei einer konventionellen „Pastorale“ zum Gähnen neigen, was öfter vorkommen soll, als zugegeben wird.

Ich höre, dass das Konzert die Energie der Generalprobe noch gesteigert hat. Ich war nicht dabei, aber ich glaube es gern. Aber soviel kann man sagen: Wenn es gelingt, die Energie auch in einer Aufnahme zu konservieren, wird das ein bemerkenswertes Beethoven-Album, auch in der Kombination mit verwandter Musik italienischer Zeitgenossen wie Rossini oder Cherubini. Und: Wieder erweist sich die Aufteilung des Chefdirigentenpostens auf Bas Wiegers, Jörg Widmann und Enrico Onofri als künstlerischer Gewinn, der ganz unterschiedliche Energien freisetzt - gerade bei Allerweltswerken wie Beethovens Symphonien.
Infos zur Jubiläumssaison „75 Jahre Münchener Kammerorchester“ unter www.m-k-o.eu und Telefon 461364-0