Der Neo-Romantiker
Bach ist robust, womöglich sogar unkaputtbar. Die "Goldberg-Variationen" lassen sich auf dem modernen Konzertflügel ebenso gut spielen wie auf einem Cembalo - um von weiteren Bearbeitungen zu schweigen. Nur bei zwei der 30 Variationen hat der Komponist das Tempo vorgeschrieben. Und die Entscheidung zwischen leise und laut samt den Schattierungen dazwischen stellt sich aus technischen Gründen ohnehin nur auf dem Klavier.
Insofern bleibt vieles Geschmacksache, was ein Interpret wie Víkingur Ólafsson unternimmt. Er hat die "Goldberg-Variationen" soeben aufgenommen und auf seiner Welttournee im Prinzregententheater vorbeigeschaut. Der 39-jährige Isländer versucht nicht, den Cembaloklang auf dem Steinway historisierend nachzuahmen. Sein Ansatz ist neo-romantisch, mit sehr dezidierten Entscheidungen zu Tempo und Ausdruck der scharf voneinander geschiedenen Variationen, die er als Folge gegensätzlicher Etüden und Charakterstücke versteht.
Es gibt keine Bach-Polizei, die ihm das verbieten würde. Ólafsson beginnt die Aria sehr zurückgenommen, leise, langsam und mit viel Gefühl. Die erste Variation lässt er als Gegensatz temperamentvoll donnern. Wiederholungen schattiert er stets im Ausdruck ab. In den kontrapunktischen Kanons trennt er deutlich zwischen dem, was er als Melodie in der Oberstimme und was er als begleitenden Bass versteht.
Da mag man bisweilen seiner Sicht nicht folgen. Die neunte Variation, von vielen Interpreten am Klavier und Cembalo kraftvoll und streng genommen, spielt Ólafsson in einer Weise nuanciert, die man auch säuselnd nennen könnte. Überhaupt ist Strenge etwas, was seiner Interpretation abgeht: Er stellt das Virtuose und Spielerische in den Vordergrund.
Das Andante vor der 16. Variation ist für ihn ein Adagio, den dezidiert langsamen Satz (Nr. 25) deutet er fast meditativ und unbewegt. Andere Interpreten verstehen sie als Herzstück und hochexpressive Passions- und Ausdrucksmusik. Da fehlt Ólafsson eine gewichtige Dimension. Die darauf folgenden Variationen fasst der Pianist zu einem gleichsam symphonischen Finale zusammen, bei dem Brillanz und Schwung bisweilen über die Genauigkeit triumphieren.
Ehe sich in der Wiederholung der Aria alle Wogen glätten, spielt der Pianist die Nummer vor dem Quodlibet in einer Weise irritierend rockig, die Puristen verschrecken dürfte, das Publikum jedoch staunen ließ. Aber das mag man auch als besonderen Reiz verstehen.
Im Vergleich zu Glenn Gould klassischer, aber auch umstrittener Interpretation wirkt Ólafsson verspielt und manieriert, im Vergleich zu Murray Perahia oder András Schiff fehlen der natürliche Fluss und die kontrapunktische Ausgewogenheit, von Igor Levit scheidet ihn der Wille zur rückhaltlosen Unbedingtheit. Ólafsson neigt ein wenig zur Stromlinienform. Aber auch das ist letztendlich Geschmacksache. Das ausverkaufte Prinzregententheater zeigte sich jedenfalls begeistert. Und wer würde da widersprechen wollen?
Víkingur Ólafssons Aufnahme der "Goldberg-Variationen" erschien bei der Deutschen Grammophon
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