Der Hektiker
Zugegeben: Raphaël Pichon ist zum ersten Mal bei den Münchner Philharmonikern. Man lernt sich erst kennen, das Orchester weiß seine leicht zappeligen Zeichen noch nicht so recht zu deuten. Kleine Unwägbarkeiten, etwa, dass in der Großen Messe c-moll von Wolfgang Amadeus Mozart die Violinen bisweilen leicht ausfransen, sind also normal.
Zudem ist Pichon kein ausgebildeter Dirigent, sondern hat als Countertenor angefangen, etwa unter Gustav Leonhardt und Ton Koopman, von denen er sicherlich Vieles lernen konnte, aber bestimmt nicht das Dirigieren. Pichon, der als Gründer und Leiter des auf Alte Musik spezialisierten Ensemble Pygmalion bekannt wurde, sammelt also noch Erfahrungen vor gestandenen Orchestern, und das ist in Ordnung.
Warum aber, um alles in der Welt, reagiert er dann nicht gleichsam ergebnisoffen auf die Realität, die ihm bei seinem Debüt in der Isarphilharmonie entgegenschallt? Es wäre etwa leicht, Chor und Orchester in der Mozart-Messe Zeit zum Atmen zu geben. Stattdessen peitscht Pichon sein offenbar vorher zurechtgelegtes Tempokonzept durch.
Der Philharmonische Chor München (Einstudierung: Andreas Herrmann) kommt selbst mit Geschwindigkeitsübertretungen hervorragend zurecht, von den hochvirtuosen Koloraturen in den Fugen wird kein einziges Sechzehntel verschluckt, was man den beiden männlichen Solisten Robin Tritschler und Christian Immler leider nicht bescheinigen kann. Umso bewundernswerter, wie die Sopranistin Ying Fang und die Mezzosopranistin Ema Nikolovska in der allseitigen Hektik immer noch maximale Tonschönheit produzieren können. Verloren geht aber jederlei Einsicht in den formalen Aufbau der Sätze.
Genau das dürfte eigentlich nicht im Sinne Raphaël Pichons sein. Schließlich hat der noch nicht 40-jährige Pariser das ohne Pause durchlaufende Programm sinnreich konzipiert: Die unvollendet gebliebene Messe Mozarts hat ein Gegenstück in der Symphonie h-moll von Franz Schubert, die vom Komponisten bekanntlich ebenfalls unfertig hinterlassen wurde. Hübsch ist auch die Idee, den Abend aus dem abgedunkelten Saal wie verloren mit einem solistisch gesungenen dreistimmigen Kanon Schuberts beginnen zu lassen, zumal Ying Fang zauberisch leise in der Höhe einsetzen kann.
Pichons Eingriffe in das Tempo hingegen irritieren: Man kann die ersten Takte der "Unvollendeten" wie ein Motto breiter spielen, aber nicht ein einmal erreichtes Allegro beliebig oft wieder anhalten. Das widerspricht dem Notentext offen. Gegen den Willen des Komponisten zu handeln ist aber, anders als leichtes Holpern in der Koordination, nicht in Ordnung.