Der erste Abend des Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons

Salzburger Festspiele: Das Boston Symphony Orchestra gastiert unter seinem neuen Chef Andris Nelsons mit Mahlers 6. Symphonie im Großen Festspielhaus
Robert Braunmüller |
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Ein bisschen ist der Lack ab bei den großen amerikanischen Orchestern. Früher waren die Musiker von der Ostküste der Inbegriff technischer Virtuosität und Brillanz. Aber die Europäer haben da gewaltig aufgeholt, sie arbeiten stilistisch vielfältiger, während die Neue Welt musikalisch irgendwie in den Achtzigern stehengeblieben scheint.

Das Boston Symphony Orchestra war lange nicht in Europa: Der Gesundheitszustand seines langjährigen Chefdirigenten James Levine ließ Gastspiele nicht zu. Nun ist der immer noch junge Lette und Jansons-Schüler Andris Nelsons seit einem Jahr sein Nachfolger – ein Dirigent, der leider ein wenig dazu neigt, hastig von Auftritt zu Auftritt zu eilen.

Potenzierte Qualitäten

Wenn das erste Konzert des Orchesters im Großen Festspielhaus nicht trügt, haben sich hier die Richtigen gefunden: ein Energetiker am Pult und eher analytisch-klar spielende Musiker. Das sind Eigenschaften, die sich wechselseitig nach oben ziehen, gar potenzieren. Technische Schwächen kennt das Orchester nicht: Das Blech ist virtuos, die Holzbläser ebenso, die Streicher strahlen mit Charakter. Und der Klang ist ausgesprochen durchhörbar und trennscharf.

Nach der Aufführung von Gustav Mahlers Sechster war eines klar: Das Boston Symphony Orchestra gehört ohne Frage auch heute zu den fünf besten Orchestern der Welt. Und es leuchtete sofort ein, dass der ursprünglich auf fünf Jahre befristete Vertrag mit Andris Nelsons schon während der ersten Saison um drei weitere Jahre verlängert wurde.

Nelsons ließ schon in den ersten Takten des marschartigen Kopfsatzes keinen Zweifel daran, dass die Symphonie tragisch endet. Die Solo-Trompete setzte scharf und schneidend mit dem Thema ein, jede Wiederholung kam größer und gewaltiger und strotzte nur so vor giftiger Energie. Der Dirigent drängte vorwärts, die Inseln weltfernen Friedens und der Herdenglocken blieben Episoden, wirkten aber nie isoliert. Und im Scherzo entfesselte er das übliche Pandämonium.

Die Musiker können auch leise spielen

Das schaffen auch andere Orchester und Dirigenten. Aber wer spielt das Andante so unvergleichlich ruhig und keusch wie das Boston Symphony Orchestra – als Erinnerung an die Romantik und trügerische Ruhe mitten im Sturm? Nelsons nahm sich zurück wie noch nie. Die Streicher spielten ganz unaffektiert mit tragendem Piano. Und die langgezogene Bläsermelodie kurz vor dem Höhepunkt leuchtete und strahlte.

Der düster dräuende Beginn des Finales gelang Nelsons weniger gut. Das Problem dieses Satzes – eine Apokalypse in Cinemascope – konnten die Musiker nicht knacken. Aber es war dennoch eine Freude, ihnen zuzuhören: Die Posaunen knarzten tief, die Trompeten schrien, und jede Steigerung schien noch kolossaler als alles vorherige, ehe zweimal Hammer und zuletzt das Tamtam alles kurz- und kleinschlug.

Aber ein tragischer Schauer wollte sich nicht einstellen – ein Hauch von Tschaikowsky blieb. Die Rückkehr der Marsch-Geste des ersten Satzes und der finale, leise, fast zufällige Zusammenbruch im allerletzten Pizzicato gelang Nelsons allerdings großartig. Dann zwang er das jubelbereite Publikum noch zu einer Viertelminute Stille. Natürlich ist Vorsicht geboten: Im Wonnemond mit dem neuen Chef sind alle Orchester gut. Aber in Boston bahnt sich doch Außerordentliches an. 

Das Boston Symphony Orchestra gastiert am 8. Mai 2016 unter Andris Nelsons mit Auszügen aus Tschaikowskys „Eugen Onegin“, Debussys „La Mer“ und Ravels „La Valse“ im Gasteig. Karten unter Telefon 93 60 93

 

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