Das Oratorium: Martin "Luther" Superstar
Das Pop-Oratorium „Luther“ von Dieter Falk und Michael Kunze mit einem Massenchor in der Münchner Olympiahalle
Über 2000 Sängerinnen und Sänger, mit weißen Blusen oder Hemden, aufgestellt wie himmlische Heerscharen. Die jüngste Mitwirkende war fünf Jahre, der älteste 87. Alle haben wochenlang geprobt, zuletzt im Gasteig. Erst am Tag der Aufführung fanden sich alle auf der Bühne der ausverkauften Olympiahalle zur Generalprobe zusammen.
Zwei Dirigenten leiteten die frauenlastigen Chöre, ein weiterer das Symphonieorchester und eine Rockband. Das Pop-Oratorium „Luther“ ist ein eindrucksvoller Kraftakt. Und alle, die dabei waren, werden noch ihren Enkeln davon erzählen. Mit jeweils anderen regionalen Chören war das Opus von Dieter Falk (Musik) und Michael Kunze (Text) bereits in fünf Großstädten zu sehen. Auf weitere Stationen im Sommer - darunter Wittenberg - folgt kurz vor dem Reformationstag das große Finale in Berlin.
Zentrale Klassiker: Worms, Wartburg und Bibelübersetzung und die Mitklatschnummer
Um mit dem fünften Evangelisten Johann Sebastian Bach gleichzuziehen, trägt das Werk stolz die Gattungsbezeichnung „Oratorium“. Tatsächlich ist es ein Musical mit szenischer Aktion: Erzählt wird Luthers Auftritt auf dem Reichstags zu Worms. Es endet mit der Flucht und seiner Entführung auf die Wartburg, wo er den Kampf um die Wahrheit mit der Verdeutschung der Heiligen Schrift fortsetzt.
Von fern grüßt „Jesus Christ Superstar“ – allerdings hier mit Happy End: In der Nacht ringt Luther mit sich wie Jesus in Gethsemane. Dann erscheint Paulus mit einer Schriftrolle im Bühnennebel mit dem Römerbrief: Der Riesenchor macht aus der reformatorischen Botschaft „Sola gratia, sola fide“ eine Mitklatschnummer, letztlich ist alles von größter Simplizität. Luther wird wie Jesus in der „Matthäuspassion“ von Streichern eingeseift.
Bösewichter wie der Papstgesandte Faber pflegen ehrlichen Kirchenrock. Der hedonistische Kaiser und die Ablasshändler singen mit coolem Soul-Einschlag. Der Rest ist Gospelchor und Helene Fischer. Man freut sich, wenn zwischendurch der Teufel ins Spiel kommt: Dann sorgt ein E-Gitarrenriff für klare musikalische Feindbilder. Die Grenze vom Pop zum Populismus ist fließend.
Der selbstdenkende, individuelle Mensch in einer Massenveranstaltung
Luther (Frank Winkels) ist ein wackerer deutscher Mann wie Du und Ich, der in Worte fasst, was das Volk so denkt. Seine Gegner macht der Text zu Pappkameraden ohne jedes vernünftige Argument. Politik und Wirtschaft werden als schmutziges Geschäft dargestellt. Und „die Deutschen sollen zahlen“, während die Südländer im multinationalen Heiligen Römischen Reich des Kaisers Karl V. unser Geld verprassen.
Dass Luther „Feind der Juden“ war, hat der Udo-Jürgens-Texter Michael Kunze ausgerechnet in einer Reihung sonst positiver Charaktereigenschaften des Reformators untergebracht. Und irgendwie passt die Kernbotschaft, der selbst denkende Mensch solle im Namen der Wahrheit individuellen Widerstand leisten, kaum zu seiner Massenveranstaltung mit 2000 Sängern im uniformen Weißhemd.
Der Schlusschor „Wir sind alle Gottes Kinder“ ist gewiss mitreißend. Musiker und Darsteller sind absolut professionell. Und es ist eine hochrespektable Leistung aller Beteiligten, die Aufführung in so kurzer Zeit zusammenzuschweißen.
„Ich bin überzeugt, dass die Lieder eine Art neue evangelische Schlager werden“, soll die Reformationsbotschafterin Margot Käßmann gesagt haben. Nein, sagen wir da, und können nicht anders – auf die Gefahr hin, es mit Mitwirkenden und ihren zuhörenden Angehörigen gründlich zu verderben.
Erweckungsmesse zum Wohlfühlen
Das Luther-Oratorium verwandelt die Reformation in eine pfingstkirchliche Erweckungsmesse und herzerwärmende Wohlfühlveranstaltung. Innerprotestantische Konflikte, Zwischentöne und der blutige Bauernkrieg passen da nicht rein. Es zeigt, wie schwer sich die evangelische Kirche tut, dieses historische Ereignis angemessen differenziert zu feiern.
Das ZDF zeigt am Reformationstag eine Aufzeichnung der letzten Aufführung in Berlin