Chilly Gonzalez - ein Genie für alle Fälle

Die musikalische Lehrstunde mit Chilly Gonzalez in der ausverkauften Philharmonie sprengt alle Genregrenzen
Adrian Prechtel |
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Man weiß nicht, was echte Exzentrik ist und was Selbststilisierung. Aber auch die kann ja glaubwürdiger Teil der Persönlichkeit werden. Jedenfalls betritt Chilly Gonzales die ausverkaufte Philharmonie im frottierten Morgenmantel, in löchrigen Socken und Pantoffeln wie ein russischer Oblomow, aber dabei natürlich viel agiler. Und so erinnert der Bademantel gleich zu Beginn an Udo Jürgens legendäres Konzertende.

Und nachdem der Kanadier mit Künstlernamen Gonzales als Wahl-Kölner uns Deutschen das „Schunkel“-Gen attestiert hat, kommt vor der letzten Zugabe noch eine musikalische Reminiszenz an den Schlager des Grand Seigneurs Jürgens. Denn das ist auch ein Charakteristikum von Gonzales: Keine versnobten Berührungsängst vor Eingängigem! Er kann es sich leisten, in seiner mitreißenden Musikalität wird alles zu Kunst. Denn gegen die Monotonie ständig wiederkehrender Melodie- und Harmoniefolgen setzt er rhythmische, variierende Gegenakzente mit der linken Pranke. Und ganz oben perlen über allem, fast glas-klirrend, musikalische Einfälle wie Gags.

Müsste man einem Nicht-Eingeweihten seine Musik erklären, könnte man es so versuchen: Man nehme das Serielle des Neo-Barocken Michael Nyman, addiere die Scharlatan-Glätte von Einaudi, den man allerdings zuvor um die Kunst Debussys bereichtert hat und dann schleudert man das ganze durch die Jazz-Virtuosentrommel eines Errol Garner.

In diesem Kunstquadrat gelingt Gonzales noch die Quadratur. Denn Gonzales ist auch noch Entertainer, Rapper, Durchhalte-Berserker und ironischer Volkshochschul-Meister. So, wenn er zum Beispiel seine Mitmusiker, das klassische Kaiser (Streich-)Quartett, vorstellt und dabei klassische Kunstformen des Saitenspiels wie Pizzicato oder Flascholett erklärt.
Gonzales betreibt ein amüsantes musikalisches Versteckspiel, nennt glaubwürdig Brahms sein Idol, und Wagner ein Scheusal, verschleiert kalauernd das Beatles-Thema „All the lonely People“ als Stones-Song, mischt Mozart dazu, den er als Haydn tarnt und hofft, wie er sagt, dass am Ende seine Musik so provokativ klingt wie Strawinskys Frühlingsopfer: Die Zuschauer sollen einen Aufstand machen! Aber es kommt „nur“ immer wieder zu stehenden Ovationen: wunderbar!

Was man an diesem Abend noch alles lernen konnte: Die Philharmonie im Gasteig kann romantisch sein, man muss nur das Licht dämpfen. Gonzales wagt sogar ein sanftes Klavier-Quintett in völliger Abdunkelung, was den akustischen Eindruck sofort intensiviert. Und: Auch Kammermusik kann die Philharmonie füllen, es muss nicht immer Groß-Symphonik sein. Das Publikum wäre da, Gonzales hat dort alle versammelt: Hipster, Bildungsbürger, Musikerkollegen, die Spaßgesellschaft und sogar Kinder.

Und wenn am Ende Gonzales seine Kompostion, in der er sich (ironisch?) zum musikalischen Genie erklärt hatte, diesmal (wieder ironisch?) zu „I’m Not a Genius“ umdichtet, dürfen wir ihm lässig zugestehen: Doch, Chilly, Du bist eines.
 

 

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