Interview

Brahms für das Gemüt und den Verstand

Der Dirigent Thomas Hengelbrock über die Interpretation der Symphonien des Komponisten
Robert Braunmüller
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Thomas Hengelbrock und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei einer Probe im Herkulessaal.
Thomas Hengelbrock und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei einer Probe im Herkulessaal. © Astrid Ackermann

Die Münchner Philharmoniker haben am Dienstag ihren Brahms-Zyklus unter Zubin Metha begonnen, heute folgt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit den ersten beiden Symphonien des Komponisten. Weil der 96-jährige Herbert Blomstedt erkrankt ist, springt Thomas Hengelbrock für ihn ein. Die Symphonien Nr. 3 und 4 in der nächsten Woche übernimmt Simone Young.

AZ: Herr Hengelbrock, für die beiden Münchner Brahms-Zyklen wurden zwei Dirigenten beauftragt, die 20 und mehr Jahre älter als Sie sind. Die Verantwortlichen sagten mir dazu, Brahms sei vor allem eine Sache der Erfahrung. Stimmen Sie dem zu?

THOMAS HENGELBROCK: Vielleicht muss man sich ausgetobt haben. Ich habe in meiner Jugend viel Jazz gespielt und als erzromantischer Geiger begonnen, den die Historische Aufführungspraxis nicht interessiert hat. Ich bin vielleicht nicht vom Saulus zum Paulus geworden, aber ich denke, dass wir als nachschaffende Künstler die Aufgabe haben, uns mit den Kompositionen gründlich zu beschäftigen. Und weil es niemanden gibt, der komplexer als Brahms schreibt, braucht das Zeit. Und manchmal auch Scheitern, aus dem man lernt.

Thomas Hengelbrock wurde 1958 in Wilhelmshaven geboren. Er studierte Geige, war Konzertmeister der Jungen Deutschen Philharmonie und Mitbegründer des Freiburger Barockorchesters. Von 2011 bis 2017 war der Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters. mit dem er alle Brahms-Symphonien aufnahm.
Thomas Hengelbrock wurde 1958 in Wilhelmshaven geboren. Er studierte Geige, war Konzertmeister der Jungen Deutschen Philharmonie und Mitbegründer des Freiburger Barockorchesters. Von 2011 bis 2017 war der Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters. mit dem er alle Brahms-Symphonien aufnahm. © Astrid Ackermann

Außerhalb einer zyklischen Aufführung würde man die erste und die zweite Symphonie kaum an einem Abend spielen. Worin besteht die Charakteristik der beiden gegensätzlichen Werke?

Brahms hat sich die Last auferlegt, die ganze Musikgeschichte zu kennen. Die erste Symphonie hat deshalb eine lange Entstehungszeit, die zweite entstand wie befreit in einem Sommer. In der ersten gibt es - vor allem im ersten Satz - eine extreme Verdichtung und Schichtung der Musik. Die zweite hat mehr Großräumigkeit. Das größte Wunder in dieser Symphonie ist für mich der zweite Satz: Man weiß gar nicht, ob das Thema in den Celli oder in der Gegenbewegung des Fagotts zu hören ist. Auch die kombinatorische Arbeit lässt mich immer wieder staunen.

Ist das die Besonderheit seines Komponierens?

Brahms setzt der flächigen und etwas theatralischen Musik der neudeutschen Schule um Franz Liszt sein enzyklopädisches Wissen entgegen. Für ihn hat Musik kein dichterisches Programm, für ihn ist sie reine Musik und kompositorisches Können. Dafür versuchte er, drei Jahrhunderte Musikgeschichte für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Daraus spricht auch die Fortschrittsidee des 19. Jahrhunderts. Und es öffnet ein Tor zu Moderne - etwa zu Schönberg, der Brahms sehr geschätzt hat.

Thomas Hengelbrock und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei einer Probe im Herkulessaal.
Thomas Hengelbrock und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei einer Probe im Herkulessaal. © Astrid Ackermann

Wo kann man diese Rückbezüge auf die Musikgeschichte in den Symphonien hören?

Die Harmonik spielt bisweilen auf Kirchentonarten an. Sie ist aber mit der von Wagners "Tristan" vergleichbar, der gleichzeitig mit der Symphonie Nr. 1 entstand. Ein zentrales Thema des Finales spielt auf die Freudenmelodie aus Beethovens Neunter an. Die Symphonie Nr. 1 durchzieht in allen Sätzen viel kontrapunktische Arbeit in der Tradition Bachs. Das erfordert von den Ausführenden ein Höchstmaß an Präzision - eine schöne Komplexität. Je großräumiger man darüber hinweggeht, desto angenehmer ist es vielleicht für das Publikum. Doch je genauer man es spielt, desto erhellender wird es. Denn Brahms hat nicht nur für das Gemüt komponiert, sondern auch für den Verstand. Die Überwältigung des Hörers, auf die Wagner abzielt, war hingegen nicht seine Absicht.

Bis auf die Schlüsse: Beide Symphonien enden hymnisch.

Bei der Zweiten scheint mir eine gewisse Leichtigkeit entscheidend, die von Haydn herkommt.

Thomas Hengelbrock und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei einer Probe im Herkulessaal.
Thomas Hengelbrock und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei einer Probe im Herkulessaal. © Astrid Ackermann

Zu Brahms' Lebzeiten wurden die Symphonien von erheblich weniger Musikern gespielt. Kann das ein Vorbild sein?

Ich war früher Orchestermusiker. Insofern ist mein Ausgangspunkt anders als bei meinen Kollegen, die vom historischen Instrumentarium ausgehen. Außerdem möchte mit den Gegebenheiten arbeiten und nicht Leute nach Hause schicken. Und die Konzertsäle sind heute auch größer. Die heute übliche Streicherbesetzung erfordert aber viel Arbeit an der Balance mit den Bläsern, die sich bei einer kleineren Besetzung ganz natürlich herstellt. Und: Ich springe hier für Herbert Blomstedt ein, insofern ist es eine Frage des Respekts, die Orchesterbesetzung zu übernehmen, die er sich gewünscht hat.

Wirkt Ihre Tätigkeit als Geiger beim Dirigieren nach?

Sehr. In meinen Fingern zucken immer noch die Fingersätze, was ich aber nicht als Nachteil empfinde. Und die Kollegen im Orchester wissen das, glaube ich, auch zu schätzen.

Was macht aus Ihrer Sicht eine gute Brahms-Aufführung aus?

Sie sollte nicht nur die Wucht der Musik vorführen, sondern auch ihre Architektur. Wenn man das herausarbeiten will, braucht man gute Probenbedingungen. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks besteht aus fantastischen Musikerinnen und Musikern, die wach und wendig spielen. Und da werden wir einiges zeigen können.

Herkulessaal, 11. und 12. Februar, 20 Uhr, wenige Restkarten bei BR Ticket und an der Abendkasse

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