AZ-Kommentar: Ein Lied als Sprengstoff
Stockholm - In Regel 1.2.2., Abschnitt G, ist es eigentlich unmissverständlich formuliert: Ein Lied, das beim Eurovision Song Contest gesungen wird, soll keine politischen Botschaften enthalten. Mit Hinweis auf diese Passage wurden schon etliche Werke abgelehnt.
Dieses Mal ist es anders: Die Ukraine gewinnt mit einem anklagenden Lied, das die Deportation der Krimtataren durch den sowjetischen Dikator Josef Stalin 1944 besingt. Keine Anspielung, sondern eine glasklare, politische Demonstration. Ukraines Präsident Petro Poroschenko jubelt. "Ein Sieg auch für die Krim", "Denkzettel für Putin", titeln die Zeitungen.
"Ein Lied kann eine Brücke sein", sang Joy Fleming 1975. DAS ist die Idee des Eurovision Song Contest. Und sie funktioniert oft besser als manche Kritiker meinen; zum Beispiel, wenn Kroatien und Serbien, zwei immer noch verfeindete Balkanstaaten, über den Musikgeschmack zueinander finden; oder wenn Deutschland aus Israel ordentlich Punkte erhält, einfach weil den Israelis das Lied gefällt.
Wird der ESC wie heuer zur politischen Bühne, geht der Charakter des Wettbewerbs dagegen verloren.
Gilt gleiches Recht für alle, kann Polen nächstes Jahr mit einem Lied starten, das "1943" heißt - und ein in der Ukraine gerne verdrängtes Massaker an 100.000 Menschen in der Region Wolhynien besingt; England kann die deutschen Angriffe auf Coventry zu einer Hymne verarbeiten; Deutschland vertont die Dresdner Bombennächte; Bosnien schreibt ein Klagelied zum Massaker von Srebrenica; Serbien unterlegt die kroatischen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs mit einem tanzbaren Rhythmus; und ein griechischer Interpret rappt das historische "Ochi" (Nein) zum Ultimatum des faschistischen Italiens 1940 - inklusive mitgedachtem Bezug zur Eurokrise.
So werden Lieder nicht zu Brücken, sondern zu Sprengstoff.
- Themen:
- Wladimir Wladimirowitsch Putin