Münih fliegt zum Bosporus

Das Staatstheater am Gärtnerplatz gastierte mit Brecht/Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” auf einer Freiluftbühne in der Festung Rumeli in der Weltstadt Istanbul
Hendrik Heinze |
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Die Celli fliegen, den Pauken reicht ein Platz im LKW. Und die Pistole? Da kauft die Requisiteurin auf dem Basar eine neue. Katja Leitz weiß all das – falls nicht, schaut sie nach in ihrem prallvollen Ordner, der so heißt wie sie. Die Mitarbeiterin des Gärtnerplatztheaters ist Reiseleiterin für eine ganze Oper. „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” von Bertolt Brecht und Kurt Weill, inszeniert von Thomas Schulte-Michels und eingeladen zum Opernfestival Istanbul. Der „Moon of Alabama” unter türkischem Himmel. Willkommen - Hogeldiniz!

Wo Europa endet, beginnen die Proben. Rumeli, eine gewaltige Festung mit Amphitheater am äußersten Punkt des Kontinents – das Gegenteil vom schnuckeligen Gärtnerplatztheater. Sultan Mehmed II. kontrollierte hier vor 560 Jahren den Bosporus, Istanbuls Meerenge zwischen Europa und Asien.

„Senden! Höher!” brüllt Regisseur Schulte-Michels seinen Chor an, „den letzten Mann auf dem obersten Rang erreichen!” Die Sänger gestikulieren leidenschaftlich. Auf ihren schwarzen T-Shirts leuchtet ein rotes „G” wie Gärtnerplatz. „Bertolt Brecht war ein Clown, ein hochzirzensischer Mensch”, erzählt der Regisseur. „Er hat Volkstheater gemacht. Und in dieser Arena sind wir mitten unter dem Volk. Ich hoffe, wir kommen an.” Das erhofft sich auch Intendant Ulrich Peters vom „Betriebsausflug mit Bertolt”. „Diese Einladung adelt das Gärtnerplatztheater”, findet er. Die Münchner sind die ersten, die der Türkei „Mahagonny” in der Originalsprache Deutsch zeigen. Die Ehre tröstet hinweg über die Tücken der 13-Millionen-Einwohner-Stadt, die wunderschön ist und irre anstrengend. So viele Einwohner wie ganz Bayern – und die Hälfte davon im Stau vor dem Theaterbus.

Die türkische Operntradition ist jung, erzählt Festivaldirektorin Yekta Kara. Richtig los ging es erst mit dem Deutschen Carl Ebert, der hier in den 1930ern die Staatsoper gründete. Die Impulsgeber kommen immer noch aus Deutschland: Drei deutsche Generalmusikdirektoren arbeiten an den sechs türkischen Opernhäusern. Sechs für 77 Millionen Menschen.

Die Türkei ist im Aufbruch, kein Land Europas verändert sich schneller. Die Stimmung hat auch die Kunst erfasst. Die in München ausgebildete Yekta Kara kämpft als erste Regisseurin der Türkei für zeitgenössisches Musiktheater. Sie hat die Gärtnerplatztruppe geholt, damit sie ein Zeichen setzt: Seht, so unverschnörkelt kann Oper sein.

Die Premiere: Metropolenmenschen strömen ins Amphitheater, jung und schick. Stilettos klackern über die Stolpersteine der Festung. Das Orchester hebt an, die Bühne ist leer. In den nächsten zwei Stunden füllt sie sich mit grellgelben Holzstühlen, erst zwei klitzekleine, später drei riesige in einem Stuhlmeer.

Auf, unter, zwischen ihnen erzählen die Solisten um Heike Susanne Daum (stimmgewaltig als Hure Jenny) und Wolfgang Schwaninger (ein intensiver Jim Mahoney die Geschichte des lasterhaften Mahagonny, in dem gesoffen wird und gehurt. Alles ist erlaubt. Aber wer nicht bezahlt, der lebt nicht lange. Mahoney setzt beim Boxkampf auf den falschen Mann, kann den Whisky nicht bezahlen - und wird zum Tode verurteilt.

Chor und Orchester legen sich zum Spielzeitende noch einmal ins Zeug. Mit Wehmut, das Ensemble steht vor seinem letzten gemeinsamen Jahr vor dem Intendantenwechsel. Seine Mission in Istanbul ist erfüllt. Schnörkellose Oper mit starken Bildern. Das Publikum applaudiert den Gästen aus Münih, Almanya. Und macht sich auf den Heimweg, vorbei an den Bars im In-Stadtteil Bebek, wo Porsches parken und eine Cola 20 Euro kostet. Alles ist erlaubt, wenn nur die Kasse klingelt – war da nicht was?

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