Mit der Axt des Regisseurs
Joseph Haydns "Orlando paladino" an der Berliner Staatsoper. Die Aufführung kommt im Sommer nach Innsbruck und wird Ende Mai im Fernsehen übertragen.
Wenn der mobile Daniel Barenboim seine Berliner Staatskapelle mit in die weite Welt nimmt, also immer im Mai und diesmal auf Mahler-Mission in New York, wird zuhause an der Linden-Oper von Hinterbliebenen und ihren Gästen pünktlich das leicht angestaubte Schatzkästchen aufgeklappt, so sehr es auch klemmen mag. Seit 1992 bringt der Belgier Rene Jacobs, der dirigierende Countertenor und führende Spezialist für Alte Musik, mit wechselnden Ensembles und ebensolchem Erfolg hiern und für die Innsbrucker Festwochen Barockopern-Produktionen heraus.
Bei der Nr. 18 half ein Seitenblick auf das unterbelichtete Jubiläumsjahr eines verkannten Operngenies, und was immer man gegen die gagversessene Inszenierung des "Orlando Paladino" von Nigel Lowery und seines Zappel-Choreographen Amir Hosseinpour sagen mag - das Klischee von "Papa Haydn" hat sich damit vorerst erledigt. Und die wunderbare Marlis Petersen, die neue Salzburger "Figaro"-Susanna wie auch für Rameaus Platée an der Bayerischen Staatsoper unter Vertrag, ist an die Spitze ihres Fachs gestürmt.
Liebeswirren
Ein rasender Ritter, der bei der Verfolgung der Angebeteten gerne durch geschlossene Türen geht, wird von einem nicht minder aggressiven Konkurrenten, der zur Beglaubigung seiner Heldentaten gerne Zeitungsausschnitte vorzeigt, herausgefordert. Es geht um die genervte Königin Angelica, die mit dem eigenen Porträtgemälde und ihrer Reise-Krone in eine ferne Burg flüchtete, wo sie dem falschesten aller Herren (Tenor und auch sonst schwächlich) ihre Liebe reserviert. Aber womöglich war ja alles doch nur ein Test aufs Prestige der Macht-Gefühle, denn auf die Moral hätte man nach dreieinhalb Stunden auch ohne Zauberin kommen können: "Wenn ihr glücklich sein möchtet, liebt immer den, der euch liebt".
Das holzige Geflecht von Buffa-Kokolores und heroischem Anspruchsdenken, auf das sich Joseph Haydn dazumal eingelassen hat, braucht heutzutage alle paar Minuten einen theatralischen Befreiungsschlag, was Nigel Lowery offenbar als direkte Dienstanweisung sieht. Er schlägt, mal originell und oft auch albern, eine Schneise durchs Dickicht. Die "offene Landschaft" vor spöttisch-malerischer Burg im Sandkasten-Design (hier baut der Regisseur persönlich) ist bei ihm ein Feld von Tannenbäumen samt Christbaumständern. Dort wüten Kämpfer, die vom Fluch der Karibik gezeichnet sind, und treffen auf einen direkt aus dem Neandertal emporgestiegenen Mann von La Mancha.
Verkannte Opernkunst
So weit so beliebig. Was der Inszenierung gelingt, ist das Freisprengen von Situationen, in denen Haydns vielseitige, in allen Spielarten überraschend frisch sprudelnde Musik ihre Wirkung entfalten kann. Was es da an Wahnsinns-Dramatik, Couplet-Artistik und Ensemble-Raffinesse zu entdecken gibt, ist enorm. Davon hat die Opernwelt noch mindestens ein Jahrhundert leben können.
Rene Jacobs lotet die Qualitäten mit dem jugendlich-stürmischen Freiburger Barockorchester in nie nachlassender Originalklang-Vitalität aus, schmeckt den Theaterdonner mit dem Drang zu emotionaler Tiefe ab und integriert die pfeifende Soubrette Sunhae Im in den Sound als habe Haydn testamentarisch auch Ilse Werner was Gutes tun wollen.
Prächtiger Gesang
Unter beachtlichen Sängern (Tom Randle in der Titelpartie) eine herausragende Marlis Petersen als Angelica, die Flucht-Königin mit Lady-Di-Syndrom. Sie hat alles, was Haydn seiner damaligen Diva in den Kehlkopf komponierte - und den entscheidenden Willen zur Charakterisierung dazu. Die abenteuerlichen Koloratur-Serpentinen sind bravourös bewältigt, dabei fern von kaltem Geglitzer, und ergeben die Zuspitzung der süffig sarkastischen Psychologisierung der Regie. Als abfederne Hülle für diesen harten Kern von heroischem Aufschwung kann Lowerys Spaßmacherei bestehen. Jubel vor allem für Petersen und Jacobs. Nicht das ganz große Tor, aber ein kleines Seitentürchen zur Bühne hat sich für Haydn wieder geöffnet.
Dieter Stoll
Arte sendet eine Aufzeichnung der Premiere am 23.5. um 22.25 Uhr. Die Aufführung gastiert am 25., 27. und 29. August bei den Innsbrucker Tagen der Alten Musik. Infos unter www.altemusik.at