Mit all dem nicht alleine

In dem Buch „Der alte König in seinem Exil” erzählt Arno Geiger von seinem Vater, dem die Erinnerung langsam abhanden kommt
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Das Foto, es ist einfach nicht mehr da. Ein Bild des Vaters, aufgenommen nach dem Krieg, kurz nachdem dieser ein russisches Lazarett verlassen hatte: ein wegen wochenlanger Ruhrerkrankung abgemagerter Jugendlicher, vor dem das Schaffen zahlreicher Erinnerungen liegt, die ihm dann im Alter abhanden gehen sollen. Wie das Portemonnaie, in dem das Foto 60 Jahre lang lag.

Der Verlust schmerzt, nicht August Geiger, den einstigen Kriegsheimkehrer und nun Alzheimerkranken, sondern einen seiner Söhne, Arno, den Schriftsteller, der vom Gedächtniswert des Fotos weiß und es sucht. Es ist ein Moment, in dem klar wird, dass Demenz oft jene mehr belastet, die Zeuge des Verfalls werden, als jene, denen die Krankheit widerfährt.

Als Hilfsweg gegen den Kummer mag das Verfassen eines Buches helfen. Der Österreicher Arno Geiger hat das mit „Der alte König im Exil” getan, und das Ergebnis wird natürlich selbst zm Erinnerungsstück, zum Ersatz für all das Verschwundene, das nun immerhin in Schriftform bleibt – und es ist gleichsam eine liebevolle, behutsame Hommage an den Vater, zu Lebzeiten.
Er habe das Buch sechs Jahre lang entstehen lassen, erzählt der 42-jährige Geiger, „ich wollte über einen Lebenden schreiben, ich fand, dass der Vater, wie jeder Mensch, ein Schicksal verdient, das offen bleibt.” Hinter solchen Aussagen, man spürt es, steckt viel Reflektion über das, was er da eigentlich macht: dass er Privates öffentlich macht, dass er seinen Vater porträtiert, als der gesunde Mensch, der er war, und der kranke, der er nun ist, ohne dass dieser seine Zustimmung geben, noch sich wehren könnte.

Aber Geiger gibt sich große Mühe, ihm gerecht zu werden, und allein dieser stete Versuch, sich einzufühlen und die Balance zu wahren, in einer klaren Sprache, einem leichten Ton, macht dieses Buch so berührend.

Einbußen werden zu Gewinnen

Den Blick auf die Geschichte des Vaters öffnet der Sohn Schritt für Schritt. Es ergibt sich ein vielschichtiges Bild von einem zurückhaltenden, humorvollen Mann, dessen Wurzeln auf dem Land liegen: Geboren als drittes von zehn Kindern, die Eltern Kleinbauern, wuchs August Geiger im vorarlbergischen Wolfurt auf, ein beschauliches Örtchen, das er nach den Traumata des Krieges nicht mehr verlassen will. Er ist ein Heimatverbundener, der mit fortschreitender Demenz zum Heimatsuchenden wird, überall, selbst wenn er schon zu Hause ist. Ein Gefühl von Geborgenheit will sich angesichts der „inneren Zerrüttung” nicht mehr einstellen, vermutet Geiger.

Den Vater, von seiner Frau nach eher unglücklicher Ehe verlassen, lässt er oft zu Wort kommen und findet in dessen Sprache eine gewisse Logik, Charaktertypisches, gar Magie: „Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen”, meint August zum Beispiel, was genauso aphoristisch klingt wie das, was Arno besonders am Ende des Buches schreibt. Kurze Passagen, lose verbunden, als ob der Autor demonstrieren möchte, wie Denkzusammenhänge mit zunehmender Länge der Lebenserzählung zerfasern, ohne dass einzelne Gedankenstücke an Sinn und Wert verlieren.

Dass er immer wieder Persönlichkeiten der Weltliteratur, von Marcel Proust bis James Joyce, zitiert und seinen Vaters auf einen poetischen Thron hebt, wirkt verklärend, ist aber eben auch eine Strategie, mit der Krankheit umzugehen: Man ist mit all dem nicht alleine. Und auch der Kranke hat Größe. Unter der Schicht des Vergessens sucht und findet Geiger die Spuren jenes Menschen, den er von früher kennt. Nicht nur deswegen ist sein Buch eine beeindruckende Übung im positiven Denken: Einbußen münzt er in Gewinne um, an Erkenntnis und Lebensweisheit. Das Foto seines Vaters hat Geiger im Laufe der Zeit wieder gefunden: als Kopie bei einer Tante, wie er erfreut schreibt. Kein Wunder, aber ein Zeichen.

Michael Stadler

Arno Geiger: „Der alte König im Exil” (Hanser, 194 Seiten, 17.90 Euro).

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