Melody Gardot im Herkulessaal

Melody Gardot gelingt bei ihrem München-Debüt im Herkulessaal etwas ganz Seltenes: Sie erfüllt Erwartungen, die sie gleichzeitig konterkariert.
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Melody Gardot gelingt bei ihrem München-Debüt im Herkulessaal etwas ganz Seltenes: Sie erfüllt Erwartungen, die sie gleichzeitig konterkariert.

Ganz in schwarz gekleidet, wortlos und in rotes Licht getaucht tritt Melody Gardot vor den Vorhang, der die Bühne im Herkulessaal verhüllt. In der Hand einen ihrer Gehstöcke, auf dem Kopf die Sonnenbrille, die sie nie absetzt, und einen platinblonden Haardschungel, so barock hingeföhnt, dass es auch eine Perücke sein könnte.

Was dann folgt hat mehr von einer Performance als dem Auftakt eines Konzerts: Gardots Silhouette kauert auf dem Boden, den sie mit einem Pulver bestäubt. Plötzlich steht sie auf, schnippt mit den Fingern und stampft dazu einen ebenso energischen wie trägen Rhythmus in den Bühnenboden. Was das Pulver soll, kapiert man erst jetzt – mit jedem Schnipser und jedem Stampfer dieses bemerkenswerten Konzertabends stäubt es in kleinen, roten Wolken in den Bühnenhimmel.

Genauso überraschend die ersten Töne: Aus einer frei improvisierten Klangcollage wie bei einem Free Jazz-Konzert schält sich plötzlich „The Rain“ heraus – so melodramatisch langsam und minimalistisch, dass einem gar nicht klar ist, ob man da einem Song oder einer auf Musik gebetteten Gedicht-Rezitation lauscht.

Die chartplazierte Sängerin, die man aufgrund ihrer beiden Alben vorschnell irgendwo zwischen Norah Jones und Diana Krall angesiedelt hatte, schafft bei ihrem München-Debüt etwas ganz Seltenes: Sie erfüllt Erwartungen, die sie gleichzeitig konterkariert. Wer sich etwa wegen der kuscheligen Streicherfülle ihres zweiten Albums „My One And Only Thrill“ Kuscheljazz mir angezogener Improvisations-Handbremse erwartet hatte, wurde überrascht: Irwin Hall (Saxophone, Klarinette, Querflöte), Chuck Staab am Schlagzeug und Jason Fraticelli am Kontrabass beschränkten sich nicht auf braven Hintergrundswing, sondern improvisierten so dicht wie in einem Jazzclub.

Uneingeschränkter Star des Abends aber war Gardot: Wegen ihres Gesangs, der mal nacht- und liebestrunken („Baby I’m a Fool“), bluesig („Who Will Comfort Me“) oder so zart und rein wie eine großartige Folk- und Bossa Nova-Stimme („If The Stars Were Mine“) klingt. Aber auch wegen ihrer Ansagen, ihres schwarzen Humors und ihrer Witze: Weshalb man sich immer uneingeschränkt auch in die unglückliche Liebe stürzen, ein „Fool for Love“ sein solle? Weil man nichts zu verlieren habe: Am Ende jeder gescheiterten Beziehung bekomme man immer alle seine Sachen zurück.

Dass Gardot einen schweren Unfall mit mehrfachen Beckenbrücken, Wirbelsäulenverletzungen und Gedächtnisverlust nur knapp überlebt hat und erst durch Musiktherapie Songwriter und Sängerin wurde, erwähnt sie an diesem Abend mit keinem Wort. Ihr Gehstock erzählt diese Geschichte, wenn die Fans es nicht ohnehin wissen. Es würde auch nicht in die Stimmung des Abends passen: Die zerbrechlichste aller Sängerinnen ist zugleich nämlich die lustigste, frechste, spannendste und schrägste Musikerin, die es derzeit zu erleben gibt. Welch schönes Rätsel!

Claus Lochbihler

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