Mehr Oberlehrer als Diktator
Zwei wichtige Bücher zum besseren Verständnis der Türkei und ihres Gründers Mustafa Kemal, genannt Atatürk
Sein Bild ziert Cafés, Wohnzimmer und Büros, seine Standbilder überziehen die Türkei. Der Personenkult um Mustafa Kemal Pascha, der als „Atatürk“ (Vater der Türken), „Retter“ des Vaterlands und Gründer der modernen Türkei verehrt wird, ist 70 Jahre nach seinem Tod noch kaum verblasst. In Deutschland aber ist sein Bild unscharf. Pünktlich zur Buchmesse hat der emeritierte Turkologie-Professor Klaus Kreiser eine neue Atatürk-Biografie verfasst (Beck Verlag, 334 Seiten, 24.90 Euro), gestützt auf intensive Archivrecherche.
Geboren im (heute griechischen) Saloniki, wurde der junge Mustafa von seinem westlich orientierten Vater auf eine Militärschule geschickt, die Mutter hätte die Koranschule bevorzugt. 1899 kommt er in Istanbul in Kontakt mit den nationalistisch und revolutionär gesinnten Jungtürken, einige Wochen steckt ihn der Geheimdienst in Haft. Sein Aufstieg beginnt im Ersten Weltkrieg, als er 1915 ein strategisch wichtiges Gebiet an den Dardanellen gegen die Briten verteidigt und entdeckt, dass seine Soldaten den Tod nicht fürchten: „Ihr persönlicher Glaube macht es leichter, Befehle auszuführen, die sie in den Tod schicken“, schreibt er.
Das osmanische Reich fällt dennoch, wird durch den Friedensvertrag von Sèvres geradezu zerstückelt. Mustafa Kemal Pascha, der die Entwaffnung der Armee überwachen soll, organisiert von Anatolien aus den Widerstand und zieht gegen die Griechen, die tief in türkisches Kerngebiet vorgedrungen sind. Er rettet mit seinen Soldaten die Nation, setzt Sultan Mehmet VI. ab und ruft 1923 die Republik aus.
Lebenslanger Raki-Konsum
In den folgenden 15 Jahren überzieht Atatürk im Stile eines Oberlehrers die Nation mit gewaltigen Reformen, von der Sprache bis hin zum Frauenwahlrecht, der Kleidung – das Hutgesetz von 1925 schafft den Fes ab –, vor allem aber der Religion: Der Laizismus wird in die Verfassung aufgenommen.
1938 stirbt Atatürk an Leberzirrhose, Folge seines lebenslangen Raki-Konsums. Schon zuvor hatte er besorgniserregende Aussetzer: „Hätte er noch ein oder zwei Jahre weitergelebt, wäre es vielleicht für das Land gefährlich ausgegangen“, sagte sein Leibarzt.
Atatürks schwierige Hinterlassenschaft – der Gegensatz zwischen der laizistisch, westlich geprägten Avantgarde und der von islamischen Traditionen geprägten Bevölkerungsmehrheit – bietet auch jetzt noch die gesellschaftliche Konfliktlinie. Von einer Zerreißprobe spricht Gerhard Schweizer in seiner unbedingt lesenswerten Analyse „Die Türkei“ (Klett-Cotta, 350 Seiten, 18.90 Euro). Orhan Pamuk, Spezialist für einen leicht snobistischen Blick auf sein geliebtes Istanbul der 60er und 70er Jahre, war diese Brisanz als Jugendlicher nicht bewusst: Ihm galt der Islam schlicht als „eine Religion für Dienstmädchen“.
Volker Isfort
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