Mary und die Schokoladenfabrik
Der Tod seine Mutter fiel für den britischen Autor Jonathan Coe unter die strengen Corona-Schutzmaßnahmen der britische Regierung unter Boris Johnson, der es selbst bekanntermaßen nicht so genau nahm mit den sozialen Kontaktbeschränkungen. Coes Mutter starb allein, wenige Stunden nachdem er sie besucht hatte, Coes Bruder und die Enkelkinder hatte sie zuvor nur durch die Scheibe ihres Fensters sehen können.
Beim Aufräumen des Nachlasses stieß Coe auf alte Tagebuchaufzeichnungen und fand schließlich die Inspiration zu seinem neuen Roman "Bournville", der einen unterhaltsamen Ritt durch die letzten 75 Jahre der britischen Geschichte beschreibt. Ausgehend von sieben Ereignissen (von der Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs, über die Krönung Elizabeths II., das WM-Finale 1966 bis hin zur Beerdigung von Diana und der Feier zum 75. Jahrestags des Kriegsendes) verknüpft Coe geschickt Familiengeschichte und politische Ereignisse.
Der Leser vertieft die Bekantschaft mit dem Personal, das Fans des in Birmingham geborenen Autors schon aus vergangenen Romanen kennen. Aus gutem Grund hat der Verlag einen Familienstammbaum mitgeliefert. Bournville, ein von Quäkern gegründeter Ort bei Birmingham und Sitz der Schokoladenfabrik Cadbury, steht als ein Symbol für britisches Unternehmertum mit sozialem Engagement. Doch von der gesellschaftlichen Geschlossenheit wird am Ende des Buches, nach Turbo-Kapitalismus, Brexit und Covid nicht mehr viel übrig sein.
Coes satirisches Talent blitzt dieses Mal weniger grell auf, auch wenn es einen besonderen humoristischen Höhepunkt im Roman gibt, den 20 Jahre währenden "Schokoladenkrieg" der Briten mit der Europäischen Union (es ging um den Anteil von Pflanzenfett in der Schokolade), den Coe hier als absurde Parade von National-Chauvinismus und EU-Bürokratie zelebriert.
Auch ein britischer Journalist mit blond zerzaustem Haar und einem windigen Verhältnis zur Wahrheit bekommt hier seinen ersten Auftritt. Zentrale Figur des Romans ist Großmutter Mary, die wir Ende des Zweiten Weltkriegs als junges Mädchen kennenlernen und von der Provinz nach London begleiten, wo es schon bald gesellschaftliche Aufbrüche geben wird, von denen ihre Eltern in Birmingham nicht einmal ahnen. Verlobt mit dem hölzernen Geoffrey macht sie die Bekanntschaft mit dem jungen Journalisten Kenneth, der sie mit ins Theater nimmt, um sich 1952 ein neues Stück, Agatha Christies "Mausefalle", anzusehen. "Sehr zäh und vorhersehbar", notiert Mary in ihr Tagebuch. "Aber ich bin froh, dass ich es gesehen habe, weil es bestimmt bald abgesetzt wird." Ein Fehlurteil - wie die Theatergeschichte zeigen wird.
Den Mut, sich trotz Kenneths Werben gegen Geoffrey zu entscheiden, wird Mary nicht aufbringen, und noch Jahrzehnte später blickt sie zurück auf diese Weggabelung, ohne zu wissen, was richtig war.Da Coe aber rund ein Dutzend Familienmitglieder durch die Jahrzehnte begleitet, ist die Überfülle der privaten und politischen Themen auch ein Problem des Buches.
Nicht jeder Charakter wird so plastisch wie Mary und Kenner des Coe'schen Werks haben natürlich mehr Freude am Wiedersehen mit aus anderen Romanen Bekannten als Einsteiger. Doch als Chronist der britischen Gesellschaft bleibt der unbedingte Europa-Freund Jonathan Coe unvergleichlich.
Jonathan Coe stellt "Bournville" (Folio Verlag, 404 Seiten, 28 Euro) am 28. September um 19 Uhr im Literaturhaus vor
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