„Märchen haben alle Vereinnahmungen unbeschadet überstanden“
Der Grimm-Experte Hans-Jörg Uther zum 200-jährigen Jubiläum der „Kinder- und Hausmärchen“
„Es war einmal ...“ vor 200 Jahren: Am 20. Dezember 1812 erschien der erste Band der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Über diese Märchensammlung, aber auch über das wissenschaftliche Wirken von Jacob und Wilhelm Grimm sprach Susanne Rochholz mit dem Göttinger Märchenforscher Hans-Jörg Uther, Leiter der Arbeitsstelle „Enzyklopädie des Märchens“ an der Akademie der Wissenschaften Göttingen.
Literarischen Laien dürfte bei dem Namen Brüder Grimm spontan die Märchensammlung einfallen. Woran denkt ein Experte als erstes, wenn er diesen Namen hört?
Hans-Jörg Uther: Ich denke daran, dass von den über 200 Stücken der Brüder Grimm nur einige Dutzend in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Diese und andere Märchen repräsentieren seit Mitte des 19. Jahrhunderts das literarische Märchen schlechthin. Andere Märchensammlungen von Ludwig Bechstein, Wilhelm Hauff und Hans Christian Andersen oder solche wie „Tausendundeine Nacht“ finden weniger Beachtung.
Die Brüder Grimm waren nicht nur Märchensammler, sondern haben auch mit ihrem Wörterbuch der deutschen Sprache Maßstäbe gesetzt und sich politisch bei den Göttinger Sieben engagiert. Was ist aus Ihrer Sicht die herausragendste Leistung von Jacob und Wilhelm Grimm?
Uther: Ihre außerordentliche Bedeutung für die Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen in Deutschland und Europa mit Auswirkungen bis heute ist unbestritten. Die in den Werken zum Ausdruck kommende Universalität ihres Denkens wirkt vorbildhaft weiter, auch wenn manche Ansichten aus heutiger Sicht überholt sind. Darüber hinaus vermitteln umfangreiche Briefwechsel untereinander, mit Mitgliedern der Familie sowie mit zahlreichen Korrespondenzpartnern aus ganz Europa lebendige Eindrücke von der Vielfalt politischen und geistigen Lebens. Die Briefwechsel sind ein einmaliges kulturwissenschaftliches Dokument der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Kritik an den Grimm-Märchen, wie etwa an den Gewaltdarstellungen oder der sprachlichen Bearbeitung der Geschichten durch die Brüder, hat es immer wieder gegeben. Trotzdem gehören die Märchen für viele zu den Erinnerungen an die Kindheit. Zudem gilt die Märchensammlung neben der Lutherbibel als das bekannteste deutsche Buch im Ausland. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen?
Uther: Märchen fangen sowohl in den fantasievollen Stücken als auch in den schwankhaften Alltagsgeschichten das ganze Leben ein. Sie sind im Kern Wunschdichtungen und vom Glück der Helden und Heldinnen her bestimmt. Die schon zu Lebzeiten der Brüder Grimm bestehende Kritik an Märchen ist zwar nie ganz verstummt, aber dennoch haben Märchen alle ideologischen Vereinnahmungen bis heute unbeschadet überstanden.
Was macht die Märchen der Brüder Grimm so erfolgreich?
Uther: Unter dem weiten Begriff Märchen haben die Brüder Grimm unterschiedliche Erzählgattungen wie Märchen, Schwänke, Sagen, Erklärungsgeschichten, Kindergeschichten, Legenden und Mischformen wie Schwankmärchen einbezogen. Die Stücke greifen Konflikte modellhaft auf. Die Konflikte werden im Sinn einer optimistischen Weltsicht, des „Prinzips Hoffnung“, gelöst. Als kurze Erzählungen ohne Zwischentöne sind die Figuren leicht als Vertreter bestimmter Werte und Vorstellungen zu erkennen. Die Identifikation mit den positiv gezeichneten Figuren ist ungemein erleichtert, weil jeder die angebotene Schablone mit seinen Vorstellungen besetzen und seiner Fantasie freien Lauf lassen kann. Die damit verbundene Freiheit trägt zugleich zur zeitüberdauernden Wirkung der Märchen bei.
Wären Geschichten wie „Der Herr der Ringe“, „Harry Potter“ und die ganze Fantasy-Literatur ohne Grimms Märchen überhaupt denkbar?
Uther: Ja, denn abenteuerhaltige fantasiereiche Geschichten haben seit Homer die Menschen immer wieder interessiert. Viele Themen, Stoffe und Motive mit Figuren aus anderen Welten begegnen auch in den großen Werken des Mittelalters sowie in den Literaturen der Welt und wirken bis heute nach. Märchen und besonders die Märchen der Brüder Grimm wären ohne diese Vorläufer nicht denkbar. Schließlich haben die Brüder Grimm selbst auf diese Quellen und vergleichbare Stoffe und Motive in ihren Kommentaren aufmerksam gemacht. Die Fantasy-Literatur ist daher nur eine besondere Spielart. Die Zukunft wird erweisen, was davon in der kollektiven Erinnerung weiterlebt.
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