Lieder vom Ende der Tage

Rückkehr auf die Bühne nach 15 Jahren: Leonard Cohen singt in der Olympiahalle.
von  Abendzeitung

Rückkehr auf die Bühne nach 15 Jahren: Leonard Cohen singt in der Olympiahalle.

Sie haben mich zu 20 Jahren Langeweile verurteilt, weil ich versucht habe, das System von innen zu verändern.“ Es gibt Sätze, die fahren mit der Kraft des Wassers ins Bewusstsein. Brunnentief ist die Stimme, die sie spricht. Jubel. Der kleine Herr zieht den Hut, neigt den Kopf vor seinem Publikum, seiner Band.

Über drei Stunden steht Leonard Cohen auf der Bühne der Olympiahalle. 74 ist er, war seit 15 Jahren nicht mehr auf Tour. Jetzt verbeugt er sich vor der erinnerungsgesättigten Begeisterung und lächelt. Ein bescheidenes, dankbares, genießendes Lächeln. Begleitet wird er von einer entspannt eingespielten Band mit dem akustischen Gitarristen und Oud-Spieler Javier Maz, Neil Larsen an der Hammond B3 und dem E- und Steel-Gitarristen Bob Metzger. „Bird On The Wire“, „Who By Fire“, „Halleluja“, „Famous Blue Raincoat“. Dem schwarzen „Avalanche“ folgt das lichte „Suzanne“.

Der magische Realismus der Märkte ist verdampft

Die Halle reflektiert die Stimme, doppelt sie, zeitversetzt. Der weiße Lichtkegel schneidet den Sänger mit seiner Gitarre aus der blauschwarzen Dunkelheit. Es sind die einsamsten, innigsten Minuten des Abends. „Der magische Realismus der Märkte ist verdampft“, leitet Cohen „Anthem“ ein. „There is a crack in everything, that’s where the light comes in.“ Das Wort steht bei Cohen gegen die Stumpfheit.

In der heutigen Pop-Landschaft ist Cohen allein. Aber tatsächlich ist seine meditative Akzeptanz des Unperfekten allemal solider als die irrationalen, neoliberalen Träume.

Gerichtstag über die vergangene Erotik

Cohen ist ein Lyrik-Performer, der sich schutzlos, schutzsuchend in die Texte wirft, wie auch das jüngst im Blumenbar Verlag erschienene „Buch der Sehnsüchte“, Cohens neuer Gedichtband, zeigt. So sinkt er auch an diesem Abend neu in Worte, die er schon unzählige Male gesungen hat. Rot blutet der Vorhang, als Cohen mit „In My Secret Life“ Gericht hält über vergangene Erotik. „Everybody Knows“, „The Future“ – nur dieser Zen-Mönch darf vom Ende der Tage singen, ohne sich metaphysisch zu verheben.

Denn wo seine prophetische Stimme nicht mehr greift, setzt die Verführung der Backgroundsängerinnen ein. Cohen weiß um die Kluft zwischen dem Göttlichen und dem Menschen. Das macht ihn so verdammt sympathisch. „Ich habe vergessen für die Engel zu beten, und dann haben die Engel vergessen für uns zu beten.“

Christian Jooß

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