Liebe kämpft mit Verantwortung

„Belagerungszustand“ in den Kammerspielen: Regisseur Christoph Frick machte aus dem fast unspielbaren Thesendrama von Albert Camus eine weitgehend überzeugende Aufführung
von  Abendzeitung

„Belagerungszustand“ in den Kammerspielen: Regisseur Christoph Frick machte aus dem fast unspielbaren Thesendrama von Albert Camus eine weitgehend überzeugende Aufführung

Der unheilbringende Komet schwebt als flauschige Wolke am Himmel. Wird unten auf der irdischen Bühne gekuscht, dräut er gewitterschwarz mit scharfer Kontur. Rebelliert jedoch einer gegen das totalitäre Regime, löst sich die Wolke auf. Mit Albert Camus’ allegorischem Drama „Belagerungszustand“ gab der Basler Regisseur Christoph Frick an den Kammerspielen sein München-Debüt. Seine Inszenierung konnte zwar das unspielbare Thesenstück auch nicht fürs Theater retten, fand aber für den papierenen philosophischen Diskurs starke Bilder. Großer Premieren-Beifall.

Der Existenzialist Albert Camus warf 1948 die Fragen nach der Freiheit und Verantwortung des Individuums auf. Pest und Tod – in Gestalt eines bei Frick in Zivil erscheinenden Unteroffiziers und seiner Sekretärin – übernehmen die Macht und versklaven die Bürger mit einer absurden Willkür-Bürokratie. Dass diese Pest nicht von außen, sondern aus dem Inneren einer kranken Gesellschaft kommt, verdeutlicht Frick zu Beginn. Witzig dekonstruiert tauchen alle Themen im Ansatz auf. Der eitle Gouverneur (Stefan Merki) hält eine Endlos-Rede und wiederholt gebetsmühlenartig: „Eine Regierung, unter der nichts geschieht, ist eine gute Regierung.“ Seine Gattin (Michaela Steiger) winkt medienwirksam und küsst im Vorbeigehen leidenschaftlich ihren Geliebten, einen Fischer (René Dumont). Die Familie ist so wenig heil wie die korrupte Regierung. Wir, die Zuschauer, sind das Volk – und das macht sich willfährig zum Handlanger der neuen Macht, allen voran der zynische, opportunistische Säufer Nada (Oliver Mallison), der so seinen Hass auf die Gesellschaft legal ausleben kann.

Der Tod trägt Abendkleid und zeigt sich verführerisch

Der Tod trägt weißblondes Langhaar und ein schulterfreies schwarzes Abendkleid: Hildegard Schmahl spielt die Sekretärin, die mit einem Strich in ihrem Notizbuch Existenzen auslöscht, wunderbar menschlich und ironisch. Die Pest ist in Gestalt von Wolfgang Pregler ein unscheinbarer Mann von nebenan, der sanft und unerbittlich die Terrorschraube anzieht.

Christoph Frick hat den ausufernden Text drastisch entschlackt und konzentriert auf die inneren Vorgänge der Hauptfiguren. In der Familie des Richters trinkt man sich über die kaputten Verhältnisse hinweg. Victoria (Lena Lauzemis), die Tochter des Richters, liebt den Arzt Diego, der als einziger Widerstand gegen das Todesregime leistet und sich zwischen ihr und seiner moralischen Pflicht entscheiden muss: Herb und aggressiv klagt Victoria seine Liebe ein. Da scheint der Regisseur Angst zu haben vor dem Pathos der Sprache und der Gefühle: Fast kämpferisch stehen sich die Liebenden meist auf große Distanz gegenüber.

Edmund Telgenkämper spielt Diegos Konflikt zwischen Angst und Verantwortung überzeugend. In den zentralen Szenen mit der Pest und dem verführerischen Tod erkennt er die Mechanismen der Macht und reift zum Selbstopfer. Diese Szenen sind die stärksten in Fricks Inszenierung, die auf Viva Schudts Bühne mit Türen in verschiedenen Größen, verschiebbaren Truhen-Bänken und Videos für viel Bewegung sorgt. Am Ende tritt die alte Macht wieder an und es ist nichts geschehen.

Gabriella Lorenz

Kammerspiele, 7., 16., 29.Dez., 20 Uhr, Tel.23396600

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