Liebe hilft aus der Schaffenskrise

Der neue Roman des verstorbenen Henry Roth ist eine fabelhafte Liebes- und Leidensgeschichte
von  Reinhard Helling

Nicht vom Vielschreiber Philip Roth ist hier die Rede. Sondern von seinem Namensvetter Henry, Jude und Schriftsteller wie Philip, mit dem ewigen Literaturnobelpreiskandidaten aber nicht verwandt und zudem schon 16 Jahre tot. Warum dann über ihn berichten? Weil Henry Roth der Pionier der jüdisch-amerikanischen Literatur war und weil es mit dem Roman „Ein Amerikaner” Neues aus seiner früh eingetrockneten Feder gibt.

Zur Erinnerung: Henry Roth, geboren 1906 in einem galizischen Dorf, gestorben knapp 90-jährig in Albuquerque, New Mexico, landet als Zweijähriger mit seinen Jiddisch sprechenden Eltern in New York. Schnell lernt der Junge die Sprache seiner neuen Heimat, erobert für sich James Joyce und William Shakespeare und schreibt 1934 mit „Call it Sleep” („Nenn es Schlaf”)ein starkes Stück Weltliteratur. Doch erst drei Jahrzehnte später wird der Roman, der authentisch die miefige Welt der Lower East Side zu Beginn des 20. Jahrhunderts einfängt, als Meilenstein gewürdigt.

Anders als bei seinem Berufs- und Religionskollegen J. D. Salinger, der nach dem großen Wurf mit „Der Fänger im Roggen” noch viele Ideen im Köcher hatte, aber andere Prioritäten setze klappte es bei Roth mit einem zweiten Buch lange nicht: Kurz nach seinem Debüt verstummte Roth für mehr als sechs Jahrzehnte, heiratete die Musikerin Muriel Parker, zog mit ihr und zwei Söhnen nach Maine und wurde Farmer. Erst 1994 kommt es zur kreativen Eruption: Trotz Arthritis schießt dem alten Mann die 2000-Seiten-Tetralogie „Mercy of a Rude Stream” („Die Gnade eines wilden Stroms”) wie ein angestauter Fluss aus dem Computer. Für seine akribisch dokumentierten amerikanischen Lehr- und Leidensjahre erfindet er als Sprachrohr die Kunstfigur Ira Stigman.

Die wundersame Wiederauferstehung eines Verstummten begleitet die Hamburger Übersetzerin Heide Sommer, die seit den 60er Jahren als Sekretärin für die großen Federn der „Zeit” im Umgang mit Manuskripten, fremden Sprachen und intellektuellen Herausforderungen geübt ist, von Anfang an: In sechsjähriger Arbeit transportiert sie mit Akribie und Leidenschaft Roths Alterswerk ins Deutsche.

Dabei war sie der ruhende Pol im Verlags-Hopping: Auf Beltz-Quadriga folgten Ullstein und Rotbuch. Dass nun beim Traditionsverlag Hoffmann und Campe (HoCa) „Ein Amerikaner” erscheint, kann sich die Autodidaktin ebenfalls gutschreiben: Die bis heute für Fritz J. Raddatz tätige Lektorin machte HoCa-Chef Günter Berg (Ex-Suhrkamp) auf das Nachlass-Projekt aufmerksam. Im Auftrag von Roths literarischen Testamentsvollstreckern destillierte Willing Davidson vom „New Yorker” 2010 aus einem dicken im Nachlass gefundenen Manuskriptstapel den Roman „An American Type”.

Durch Beschneidungen kam eine Geschichte zum Vorschein, die man als Road- und-Rail-Novel und zugleich als Zeitdokument lesen kann. „Ein Amerikaner” beginnt 1938 in der Künstlerkolonie Yaddo und ist Liebes- und Leidensgeschichte in einem. Im Zentrum des „neuen” Buches steht Roths Begegnung mit seiner Frau, die er hier nur M nennt, und seine schier ewig dauernde Schaffenskrise sowie die zahlreichen Versuche, einen Ausweg daraus zu finden. Diesem wertvollen Zeitdokument entströmt die ganze Leidenschaft eines Mannes, dem es schließlich gelungen ist, seine Schaffenskrise durch Liebe zu meistern.

Als Anerkennung für ihre Übersetzungsleistung wurde Heide Sommer aus Anlass des 100. Roth-Geburtstags in den harten Kern der literarischen „Roth-Family” aufgenommen. Ihrem Einsatz als eine Art Hilfsagentin verdanken wir nun die zügige deutsche Publikation des vermutlich letzten Werks aus den 80 Kisten mit Material eines so leidgeprüften wie leidenschaftlichen Autors.

Henry Roth: „Ein Amerikaner”, aus dem Amerikanischen von Heide Sommer (Hoffmann und Campe, 384 Seiten, 23 Euro)

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