Leiden und genießen
Joachim Kaiser, Kritikerlegende der „SZ“, hat fast sechs Jahrzehnte Festivalerfahrung – und ist noch immer neugierig auf die großen Inszenierungen der Meisterwerke in Bayreuth und Salzburg
Wenn in München die letzten Vorhänge fallen, werden in Salzburg und Bayreuth rote Teppiche hervorgeholt: Am nächsten Wochenende beginnen in beiden Städten die Festspiele. Ein langjähriger Besucher blickt aus diesem Anlass zurück und auch ein wenig nach vorn.
AZ: Herr Kaiser, wann waren Sie zum ersten Mal in Bayreuth?
JOACHIM KAISER: 1951, zum Neubeginn. Bayreuth hatte einen schlechten Ruf wegen der Nazi-Vergangenheit. Damals hingen am Festspielhaus Tafeln mit den Worten „Hier gilt’s der Kunst“. Sie sollten Unterhaltungen über Politik verhindern.
Hat sich das Publikum daran gehalten?
1951 wurde mit einer heute kaum mehr vorstellbaren Leidenschaft über Wieland Wagners stilisierte Inszenierungen gestritten. Plötzlich standen die Werke im Mittelpunkt.
Das ist doch eigentlich noch immer so.
Nirgendwo gibt es ein besser vorbereitetes Publikum. Wer nach Bayreuth fährt, tut das im Bewusstsein: Jetzt wird mein Gesäß furchtbar rangenommen – sechs Stunden in diesen scheußlichen Sitzen. Auch das Essen ist nicht gut.
In Salzburg sitzt man ebenfalls nicht wirklich bequem.
Aber ein Konzert dauert nur zwei Stunden, dann geht man in den Goldenen Hirschen. Salzburg ist mehr für den Genuss und die reichen Leute da.
Man kann in der Vielfalt des Programms viele Entdeckungen machen.
Das stimmt, aber ich denke, der Rang eines Festspiels bemisst sich daran, wie es den Bestand großer Meisterwerke verlebendigen kann. Solche Aufführungen zu besprechen, ist auch für Rezensenten ein Fest: Weil es da um die Sache geht, in ihrer besten Form. Herbert von Karajan sagte einmal: Bei perfekter Vorbereitung stehe ich dem Werk direkt gegenüber. Dann habe ich keine Ausrede mehr, wenn es dem Publikum nicht gefällt.
Bayreuth steht für Wagner, Salzburg für Mozart, obwohl der im Sommer gar nicht im Mittelpunkt steht.
Da übertreiben Sie aber. Ich habe in Salzburg viele große Mozart-Eindrücke erlebt. Seit dem Sieg des Regietheaters ist das aber ein wenig kaputt gegangen. Ich habe in Salzburg einen Don Giovanni gesehen, der alt, gelähmt und ein wenig schwul war. Alles drei ist gewiss erlaubt, aber es entspricht nicht den Vorgaben Mozarts, der sich die Figur als jungen Edelmann vorstellte. Auch im Münchner „Lohengrin“ wurde Wagner zur Hintergrundmusik. Ich halte das für verhängnisvoll. Aber vielleicht reden nur alte Leute so.
Waren Sie einmal in Bregenz?
Ja, aber ich mag nicht, wenn die Musik auf der Seebühne verstärkt wird. Doch die Leute Freude sich, und ich will niemand seinen Spaß vermiesen.
Solche Events machen Klassik populär.
Es ist an sich begrüßenswert, immer mehr Menschen große Kunst zukommen zu lassen. Deshalb werden riesige Opernhäuser und Konzertsäle gebaut. Aber es ist ein Witz, wenn die von mir hoch geschätzte Anne-Sophie Mutter in der riesigen Philharmonie Violinsonaten spielt. Auf die Gefahr hin, dass Sie mich für elitär halten: Manche Kunstwerke sind ihrem Wesen nach auf ein Publikum von Kennern zugeschnitten. Früher hatten nur ein paar Auserwählte etwas davon, heute viele nichts.
Hugo von Hofmannsthal und Wagner wollten, dass der Festspielbesucher als gebesserter Mensch nach Hause geht. Ist das utopisch?
Man sollte es sich nicht so vorstellen: Ein Mann will seine Frau umbringen, hört Beethovens Mondscheinsonate und schenkt ihr stattdessen einen Strauß Blumen. Aber wenn Kunst einen Menschen immer wieder berührt, hat es eine Wirkung. Wir Deutschen verbinden mit Kunst ein bestimmtes Ethos – die Engländer dagegen sind nicht bereit, im Namen der Kunst zu leiden. William Shakespeare hat so geschrieben, dass die Kasse stimmt.
Gibt es eine Krise der Festspiele?
Vor jeder Frankfurter Buchmesse höre ich, die Leute läsen nicht mehr und der Buchhandel läge im Argen. Trotzdem erscheinen mehr Bücher als je zuvor. Über Festivals wird ähnlich geredet: Trotzdem ist es schwer, an Karten heranzukommen. Aber man sollte nicht gut gelaunt eine Tatsache wegreden: Junge Leute setzen sich ungern der ideellen Beeinflussung durch große Kunst aus.
Trotzdem gibt es viele Neugründungen.
Es sind Dutzende, wenn nicht Hunderte. Sie alle gruppieren sich um eine Idee oder Persönlichkeit. Martha Argerich etwa spielt mit ihren Freunden in Lugano, Rudolf Buchbinder hat ein gut besuchtes Festival in Grafenegg gegründet.
Wenn Sie je einen Wunsch für Salzburg und Bayreuth frei hätten, wie wäre der?
Thematische Blocks täten Salzburg gut. Mir würde gefallen, wenn die sechs besten Bach-Interpreten an aufeinanderfolgenden Tagen das „Wohltemperierte Klavier“ spielen würden. In Bayreuth sollte der Wortlaut mehr Bedeutung gewinnen. Ich halte nichts davon, wenn Katharina Wagner die „Meistersinger“ als Meistermaler auftreten lässt.
Robert Braunmüller