Leichengeruch und der süße Duft der Revolution
Eine Geschichte vom Graben: Andrew Millers Roman „Friedhof der Unschuldigen“.
Der Wintermond scheint den Männern ins Gesicht, bescheint die Knochenmauer, die inzwischen weniger wie das aussieht, was sie ist – das makabre, erbärmliche Überbleibsel unzähliger Leben –, sondern eher wie eine gute, mühsam eingebrachte Ernte.“ Noch ein Tag, und sie haben das erste Armengrab ausgehoben. Ein Mann ist schon verletzt, ohnmächtig durch die Gase, abgestürzt in die Grube. Hat sich verletzt und infiziert.
Es ist der Winter des noch jungen Jahres 1786 auf dem Friedhof der Unschuldigen in Paris. Urkundlich erwähnt wird der Ort der Handlung auch bei Patrick Süßkind. „Und innerhalb von Paris wiederum gab es einen Ort, an dem der Gestank besonders infernalisch herrschte, zwischen der Rue aux Fers und der Rue de la Ferronnerie, nämlich den Cimetière des Innocents.“ Hier wird Jean-Baptiste Grenouille, der mörderische Protagonist des „Parfums“ geboren, am 17. Juni 1738.
Ein anderer Jean-Baptiste wird 47 Jahre später den Auftrag erhalten, den Friedhof zu beseitigen. Andrew Miller holt seinen Ingenieur Jean-Baptiste Baratte in Versailles ab. Hier sitzt er, empfängt die Order – und findet dann den Ausgang nicht. Hinter Türen sitzen Menschen, die eigentlich schon vergessen haben, warum sie hier sind. Seinen Pariser Zimmerwirten wird er Versailles später beschreiben als „der seltsamste Ort, den ich jemals gesehen habe“.
„Die Gabe des Schmerzes“, „Casanova“ – der englische Autor Andrew Miller hat eine Neigung zu historischen Themen. „Der Friedhof der Unschuldigen“ kreist um das Faszinosum eines Ortes. In Benutzung seit dem Mittelalter, verdiente die Kirche gut an den Beerdigungen. Über die Jahrhunderte kam es zu einer so unvorstellbaren Überbelegung, dass sich das Niveau des Friedhofs um Meter von der Umgebung abhob. In den Armengräbern stapelten sich Leichen. In den 1770ern brach die Kellerwand eines angrenzenden Hauses ein und ein Grabinhalt ergoss sich in den Keller.
Der junge Ingenieur wird in eine gelähmte Gegend verschlagen. Einen Ort, wo der, der länger verweilt, einen schlechten Atem bekommt. Ziguette, die Tochter seiner Zimmerwirte, köchelt vor sich hin, bis sie explodiert. Marie, die Dienerin, linst gerne durch das kleine Loch in der Decke auf den schlafenden Baratte herab. Ein Lauern des Proletariats, das sich noch nicht recht entschieden hat.
Baratte wird angezogen von der Prostituierte Heloise. Einerseits ist da die Bürgerlichkeit seiner Zimmerwirte, eine dumpfe Triebunterdrückung, die aber eigentlich gar keinen Deckel mehr hat. Mit Heloise kommt die Auflösung der Standesgrenzen. Baratte, der sowieso schon dabei ist, eine Stadt von ihrem vertrauen Gestank zu befreien, düpiert wie nebenbei seine Vermieter. Andrew Miller gelingt ein Bild, das das Neue, das schnell mit Massenmord einhergehen wird, subtil ankündigt.
Es wird ein Ausgraben und Aufschütten der Knochen der Toten von Jahrhunderten. Es ist ein in allen Details absurdes Unterfangen, den immer neuen Massen Menschenmaterial, die der Friedhof freigibt, Herr zu werden. Und in all der Schaufelei werden vernichtende Energien freigesetzt. Dieser Ort mit seiner erstickenden Atmosphäre verdichtet Handlung: Hier, auf dieser „Schutthalde des Todes“, wie Patrick Süßkind schreibt, lässt sich sein Grenouille am Ende des „Parfums“ zerreißen.
Unter anderem ein Doktor Guillotine ist bei Miller damit beschäftigt, interessiert den Verfall des menschlichen Körpers zu studieren. Sehr wahrscheinlich ist das jener Arzt, der mit seiner Erfindung später Geschichte machen und sie folgendermaßen anpreisen wird: „Die Guillotine ist eine Maschine, die den Kopf im Handumdrehen entfernt und das Opfer nichts anderes spüren lässt als ein Gefühl erfrischender Kühle.“ Der Tod, er wird schon in diesem Roman am Ende einfach abgewickelt. In den Katakomben von Paris, mit den Wänden aus sauber geschichteten Knochen, sieht man heute noch das Ergebnis.
Andrew Miller: „Friedhof der Unschuldigen“ (Zsolnay, 384 Seiten, 21.90 Euro)
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