Wovon Künstler so träumen
Polling - Kurz vor Feierabend ist noch der Grünstreifen entlang der Bahnhofstraße dran. Virtuos tänzelt ein Gemeindemitarbeiter mit seinem Rasenmäher um die Alleebäume. Alles picobello, gleich morgen könnte im nahen Kloster irgendein Gipfel stattfinden. Oder wenigstens eine länderübergreifende Tagung. Denn wer weiß, was auf das kleine Polling mit seinen gut 3.000 Einwohnern noch zukommt, jetzt, nachdem sich hier internationale, überwiegend renommierte Künstler in der Säulenhalle "Stoa169" verewigt haben?
Kunstprojekt mitten auf der Wiese
Zugegeben, das Großprojekt liegt nicht im Ort selbst, sondern ein paar Hundert Meter außerhalb, mitten in der Natur, auf einer von Bäumen gesäumten Wiese. Ganz in der Nähe fließt die Ammer vorbei, und man versteht schon, dass sich Bernd Zimmer mitten im bilderbuchschönen Pfaffenwinkel seinen Traum erfüllen wollte.

Jahrelang hat der 71-jährige Maler, der in den späten Siebzigern zwischen Rainer Fetting und Helmut Middendorf als Junger Wilder ziemlich expressiv unterwegs war, quer durch die Institutionen verhandelt, Mitstreiter aktiviert, Geldgeber gewonnen. Ein monumentales gemeinsames Zeichen sollte entstehen: "für weltweit friedliche Koexistenz, Solidarität, Völkerverständigung und Achtung der Natur". Was für eine Ansage! Wobei man den letzten dieser hehren Beweggründe mit einem Fragezeichen versehen darf. Vom 35.000 Quadratmeter großen Grundstück seien zwar nur 5 Prozent der Fläche bebaut, heißt es im Infoblatt, aber mit massiven Betonplatten, die tief in der Erde verankert sind. Dass man sich im beschaulichen Polling zwischen Schongau und Starnberger See über Jahre die Köpfe darüber heißgeredet hat, ist da wenig überraschend.
Und wer aus weiter Ferne einen Blick auf die offene Halle mit ihren knallbunten Pfeilern wirft, kann auf bizarre Ideen kommen. Das Bauklötzchen-Ufo und die explodierte Farbenfabrik mit verbliebenen Stahlträgern zählen noch zu den harmloseren. Und die emphatisch besungene "Symbiose von Natur und Kunst" drängt sich gleich gar nicht auf.
In der Stoa packt einen das Erkundungsfieber
Wer allerdings in der Stoa selbst steht, wird erstaunlich schnell vom Erkundungsfieber gepackt. Jede Säule ist ein eigenständiges Werk, oft typisch für die jeweiligen Künstlerinnen und Künstler, und diejenigen, die ein Händchen fürs hochgezogene Dreidimensionale haben, können selbst im Würgegriff des Betons noch überzeugen. Andreas Angelidakis zum Beispiel hat sich eine quietschgelbe Schuttrutsche einfallen lassen, die nicht nur in Griechenland an jedem zweiten Haus für mehr "Wirtschaftlichkeit" durch Renovierung sorgen soll.
Sigrún Ólafsdóttir lässt eine Art Spirale für den Wandel des Lebens um eine schwarze Säule kreiseln, während der subversiv witzige Bjørn Melhus ein überdimensionales Streichholz zwischen Plinthe und Abakus steckt und damit nonchalant auf Größenverhältnisse anspielt.
Erwin Wurm hat aus seinem Fundus einfach nur eine der unzähligen Gurken geholt – wie fad. Dagegen überrascht Roman Signer mit einem aufgestellten feuerroten Kajak. Sozusagen als Hommage an die nahe Ammer, auf der auch an diesem Nachmittag gepaddelt wird. Und dann gibt es die Kandidaten, die einfach nur ihre Leinwand um den Schaft gelegt haben, darunter die ansonsten fabelhafte Karin Kneffel und Zimmer selbst. Damit konterkariert der Spiritus Rector sein eigenes Konzept. Aber das gehört zu den Besonderheiten dieses Pollinger Kunstkonglomerats mit Tendenz zur Überwältigung: Was zählt, ist die Vielfalt. Ob’s passt, tut nichts zur Sache. Und mit 81, zum Teil wegen Corona noch nicht fertigen Säulen kommt schon was zusammen.
Bis Mai 2021 sollen es 121 Säulen sein
13 mal 13 Exemplare waren ursprünglich geplant, das ergibt 169, deshalb der Titel "Stoa169". Immerhin 121, also 11 mal 11 Säulen, werden es mit dem zweiten Bauabschnitt bis Mai 2021 sein. Mäzene habe dafür tief in die Tasche gegriffen, die Art Mentor Foundation Lucern etwa, und sogar aus dem Kulturfonds Bayern flossen 870.000 Euro.
Die gemeinnützige Stoa169- Stiftung sucht freilich weiterhin nach Spendern. Die Halle ist Wind und Wetter ausgesetzt, der Erhalt dürfte nicht ganz preisgünstig sein. Auch wenn man sich in puncto Infrastruktur schwer zurückhält. Sitzmöglichkeiten gibt es nicht – wozu auch in einer Wandelhalle? Den Weg zur Kunstkathedrale säumen lediglich hölzerne Balken zum Abstellen der Räder. Denn mit dem Auto kommt man nur bis zum Parkplatz am Ortsrand oder an der Roßlaichbrücke.
Deshalb sind auffallend viele E-Biker unterwegs, auch ein Paar aus dem nahen Wessobrunn, das mit Rebecca Horns "Schildkrötenseufzerbaum", umrankt von gewunden Trichtern, noch nicht ganz einverstanden ist. Aber darüber könne man ja diskutieren, meint er zu ihr. Was ganz im Sinne des Erfinders wäre. Insofern gibt es einen sachten Bezug zur Stoa der alten Griechen – bevor Bernd Zimmer Maler wurde, hat er Philosophie studiert. Und unter dem Begriff Stoa firmiert bekanntlich nicht nur eine bemalte (!) Wandelhalle, sondern eine der bedeutendsten philosophischen Schulen, die um 300 vor Christus von Zenon von Kition begründet wurde. Ob der heute in der "Stoa169" einen klaren Gedanken fassen könnte? Und gelassen bliebe? Eine gute Übung wär’s auf jeden Fall.
"Stoa169" an der Ammer bei Polling. Von München aus braucht man mit dem Auto eine gute Stunde. Insgesamt nur unwesentlich länger dauert es mit dem Zug nach Weilheim und dann weiter mit dem Bus oder zu Fuß. Der Eintritt ist frei. Mehr auf www.stoa169.com
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