Unter der roten Fahne
Die Brille mit den runden Gläsern gab ihm die milde Freundlichkeit eines Märchenonkels, im direkten Umgang kam schnell bärbeißiger Grant zum Vorschein. Zumindest in der Öffentlichkeit. Und das waren nicht die einzigen Widersprüche im Leben des Willi Sitte. Am Samstag ist der umstrittene Künstler mit 92 Jahren in Halle gestorben.
Für die einen war er ein exzellenter Künstler, für die anderen Staatsmaler, hofiert von den SED-Mächtigen. Und tatsächlich hatte kein anderer dieses Standing. Von 1974 bis 1988 war Sitte Präsident des Verbandes Bildender Künstler, ab 1976 Abgeordneter der Volkskammer und von 1986 bis 1989 sogar Mitglied des Zentralkomitees der SED. Viele sahen in ihm weniger den Künstler, als den Polit-Täter, der seinen Anteil hatte am rigiden Kulturkurs der DDR.
Kraftvolle Leiber, geballte Fäuste
Mit seinen Helden der Arbeit gab der 1921 im heute tschechischen Kratzau geborene Sitte ja selbst die Marschrichtung vor – auf großen Formaten werden Chemiewerker und Brigadiers, Fabrik- und Bergarbeiter mit allem Bombast, den der sozialistische Realismus bereit hält, gefeiert. In kraftvollen Leibern, dynamischen Muskelmassen, zu allem entschlossenen Gesichtern, geballten Fäusten – wie auf seinem Wandbild „Die rote Fahne – Kampf, Leid und Sieg” für den Palast der Republik. Seine lebensprallen Nackerten, die manchmal wie ein Mix aus Kokoschka und Lucian Freud anmuten, stießen dafür prüde Funktionäre vor den Kopf. Und so ganz eindeutig war der Zuspruch ja auch nicht immer. Schon gar nicht in den Anfängen dieser Künstlerkarriere, als Sitte sich gegen das von der Sowjetunion aufgepfropfte modernefeindliche Kulturdiktat wehrt und für die Unabhängigkeit der Kunst eintritt. Er verliert seine Malklasse an der Burg Giebichenstein, wird zur Textilkunst gesteckt – und versucht, sich das Leben zu nehmen.
Das sind die düsteren Seiten im Leben Sittes, der sich dann allerdings 1963 im Rahmen einer öffentlich zelebrierten Selbstanklage ganz auf die offizielle Linie einschwört. Jahre später, 1977, darf er auf der documenta 6 mit Kollegen wie Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer die DDR vertreten, wird so im Westen bekannt – und bald gesammelt. Nach der Wende stellt sich heraus, dass Sitte ab 1965 bei der Stasi als Informant geführt wurde. Das hat er stets bestritten. Doch 2001 wird die im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg geplante Retrospektive vor allem wegen der ungeklärten politischen Vergangenheit abgesagt.
Nach einer Reihe von Hüftoperationen ging es Willi Sitte in den letzten Jahren zunehmend schlechter. Zuletzt saß der Maler, der noch im hohen Alter ein Arbeitstier war, im Rollstuhl.