Superschau in Paris: Richters verschleierte Wahrheiten
Die Franzosen lieben Anselm Kiefer. Bis ins Panthéon, die nationale Ruhmeshalle, hat es der Deutsche mit seiner dräuend bedeutungsgeladenen Kunst geschafft. Und nun wird keine zehn Kilometer weiter westlich sein Landsmann Gerhard Richter geradezu euphorisch gefeiert. Mit über 270 Werken richtet die Pariser Fondation Louis Vuitton dem Maler die bislang größte Retrospektive mit Arbeiten aus sämtlichen Schaffensphasen aus.
Auch mit 93 Jahren ein Künstler der Rekorde
Die Menschen warten geduldig in endlosen Schlangen oder gleiten dank Zeitfenstern in eine proppenvolle Ausstellung, die sich über vier Etagen und rund 30 Säle zieht. Mehr geht nicht, so opulent hat man dieses Œuvre noch nie gesehen.
Aber Richter ist selbst mit 93 Jahren der lebende Superlativ. Schon zum 22. Mal führt er den alljährlichen „Kunstkompass“ an, das ist die Liste der einflussreichsten zeitgenössischen Künstler. Auf jeder wichtigen Messe und so ziemlich jeder großen Auktion ist er vertreten und fährt Spitzenpreise ein.

Weshalb das so ist, wird in Paris gerade in der Fülle und im ständigen Wandel überdeutlich. Man ist in diesem Bilderrausch gar nicht erst versucht, etwas auszulassen. Das heißt, schnell zu den Höhepunkten zu huschen, die neben den bestens bestückten Richter-Konvoluten des Vuitton-Stiftungsgründers Bernard Arnault durch Leihgaben aus der ganzen Welt zusammengekommen sind: zur längst ikonischen „Ema“, dem „Akt auf der Treppe“ zum Beispiel, zur schlichtesten aller Kerzen, zu Streifen- und Rakelbildern oder zum eigentümlich distanzierten RAF-Zyklus.

Richters Werk entzieht sich naheliegenden Deutungen
Richter entgleitet naheliegenden Deutungen. Ob er sich in der Abstraktion bewegt oder in den frühen 1960er Jahren Fotografien verwischt in Malerei überträgt. Onkel Rudi bleibt beim Posieren in Wehrmachtsuniform ein freundlich lächelnder Verwandter, genauso die jugendliche Tante Marianne, die den Künstler als Säugling im Arm hält. Dass der Onkel 1944 in Frankreich fiel und die Tante durch das „Euthanasie-Programm“ der Nazis einen grausamen Tod fand, kommentiert Richter nicht weiter. Er wollte „Bilder machen und nicht irgendetwas anklagen“, wird der Maler gerne zitiert.
Das entspricht freilich nicht dem Bohren seiner deutschen Kollegen in den Wunden der Vergangenheit. Anselm Kiefer etwa hat in den späten Sechzigern durch wütende Selbstinszenierungen in Uniform und mit Hitlergruß mächtig provoziert. Seinen Kampf gegen die Geschichtsvergessenheit begann er irgendwann, mit immer größer werdenden Materialschlachten zu führen.

Der Maler gibt die Sphinx
Und Richter? Gibt die Sphinx, bleibt antiideologisch, ja kühl. Seine Beschäftigung mit der RAF entpersonalisiert den Terror zum Porträt einer aufgeweckten jungen Frau (Gudrun Ensslin) oder zu „Erschossener“ und „Erhängte“. Wer Richters Materialsammlungen respektive den „Atlas“ durchgeht, findet Unmengen Alltägliches, aber eben auch Aufnahmen aus den Gefängnissen - und schließlich aus Lagern wie Auschwitz.
Mit Grisaille-Bildern hat er es beim Birkenau-Zyklus zunächst versucht, um bald alles Gegenständliche zu tilgen und unter üppigen grau-braun-schwarzen und weiß-rot-grünen Farbschichten zu begraben. Das Grauen entzieht sich der Darstellung, damit ist Richter keineswegs allein. Auf der anderen Seite erfährt dieses Unfassbare eine seltsame Ästhetisierung, vielleicht sogar Mystifizierung, was durch die fast sakrale Präsentation am Ende der Ausstellung unterstrichen wird.

Aus dem Nebulösen wird im Tizian-Zyklus ein Sfumato
Man muss das nicht befürworten, aber durch diese Zurücknahme, durch dieses Verkleiden und zuweilen Transformieren erleichtert Richter seinem Publikum die Annäherung. Wer keine dezidierten Absichten formuliert und eher ratlos als entschlossen daherkommt, mit dessen Werk beschäftigt man sich unverkrampfter, lustvoller sogar. Besonders beeindruckend ist das vor der Serie „Verkündigung nach Tizian“ zu beobachten, bei der Richters Schleier wie ein übersteigertes venezianische Sfumato wirkt. Oder bei den scheinbar willkürlich ausgesuchten Landschaften, die einen stillen Romantiker erahnen lassen.
Doch weiß man’s? Und widerspricht das nicht dem Wesen Richters, der sich nirgends festzurren oder verorten lässt? Der den Stilwechsel zum Prinzip erkoren hat und womöglich noch nicht einmal bewusst? Dieser angeblich fehlende Hintersinn, die vorbehaltlose Offenheit lässt jedenfalls Raum, und ist ungemein anziehend. Christa Sigg
„Gerhard Richter“ bis 2. März in der Fondation Louis Vuitton, Paris. Der famose Katalog ist in der deutschen Version bei Schirmer/Mosel (416 Seiten, 49,90 Euro) erschienen.
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