Sie malt nackte Männer - und gewinnt!
So etwas konnte nur ein Mann hinlegen. Das heißt: ein „Gemälde von so großem Format“. Gemeint war der Triumphzug nackter Kerle, Satyrn vor allem, aber auch Mänaden, Kinder, Tiere - und mittendrin ein vor lauter Traubensaft delierender Bacchus in einer Schubkarre. Gustav Glück, Kurator und zeitweise Direktor am Kunsthistorischen Museum Wien, hielt eine Zuschreibung an Michaelina Wautier für „unmöglich“. Jetzt ist der Malerin aus Brüssel just in diesem Haus die Jahresausstellung mit immerhin 29 von 35 zugeschriebenen Ölgemälden gewidmet.
Zur Ehrenrettung muss man allerdings erwähnen, dass Glück, ein durchaus bedeutender Rubens-Forscher und innovativer Museumsmann, dieses Urteil 1903 gefällt hat. Also zu einer Zeit, als man kaum etwas über die vermutlich um 1614 geborene Künstlerin wusste - 2018 gab es die erste Ausstellung in Antwerpen. Außerdem war Frauen noch im 19. Jahrhundert der Zugang zum Aktstudium und überhaupt zur Kunstakademie verwehrt.
Woher kommt nur diese anatomische Präzision?
Woher kam dann diese anatomische Präzision? Die Virtuosität in der Ausführung? Dazu diese unterschiedlichen Typen: alte und junge, grobe und feinere Gemüter, und das alles zu einem überbordenden, in sich ausgetüftelten Historiengemälde gefügt? Das ist übrigens der nächste Hinweis, der eine männliche Hand nahelegt. Selbst die bestens ausgebildeten Künstlerinnen des 17. Jahrhunderts - man denke an die in der Alten Pinakothek gefeierte Rachel Ruysch - haben sich auf Blumenstillleben und Porträts konzentriert. Für die Historien- und gerade für die Mythologische Malerei hätte es Aktmodelle gebraucht.
Die dürfte Michaelina im Atelier ihres Bruders Charles gesehen haben. Auch er war Maler, und man kann davon ausgehen, dass er seine jüngere Schwester unterrichtet hat. In einer Kaufmannsfamilie im heute wallonischen Mons aufgewachsen, verschlug es die beiden wohl in den 1630er Jahren nacheinander nach Brüssel.
Die bestens vernetzte Familie hatte Kontakte zum Hof
Die Familie war gut vernetzt, Bildung spielte eine entscheidende Rolle, man pflegte intensive Kontakte zum Hof und zum Militär. Auf diese Weise kamen Charles und genauso Michaelina an verschiedene Porträtaufträge. Die Geschwister wohnten zusammen, wahrscheinlich teilten sie sich auch das Atelier, und man realisiert schon bald, dass die hoch talentierte junge Frau ihren Bruder überflügelt.

Sie ist die Vielseitigere, die Präzisere, auch die Innovativere. Die 1650 geschaffene und vor ein paar Jahren erst wiederentdeckte Serie „Die fünf Sinne“ mit bühnenreifen Chiaroscuro-Effekten spricht Bände. Einfach gekleidete Buben stellen in minutiöser niederländischer Genauigkeit mit simplen Gesten oder Aktionen das Sehen, den Geschmack oder das Riechen dar. Letzteres durch ein faules Ei. Das hat durchaus Witz und ist keineswegs abgekupfert, wie bislang vermutet. Vergleichbares hat der in Brüssel tätige Michael Sweerts gemalt, doch erst nach 1655 - und nach dem Vorbild Wautiers.

Es ist äußerst mühsam, das alles im Einzelnen aufzudröseln, das Verschwinden von der Bildfläche macht ohnehin ratlos. Doch Charles Wautier erging es nicht anders, Michaelina auf die benachteiligte oder verkannte Frau zu reduzieren, wird der Sache nicht gerecht. Außerdem ist ihr Testament verschollen, das hätte der Forschung zumindest eine Art Werkverzeichnis beschert, zumal von der 1689 verstorbenen Künstlerin auch keine späten Arbeiten überliefert sind.

Neben Rubens und Van Dyck muss sich Michaelina nicht verstecken
Was immer wieder auffällt, ist die Mischung aus delikater Pinselführung und einem frappanten Spektrum. Vor den Heroen Rubens und Van Dyck braucht sich Madame Wautier nicht zu verstecken. Das muss ihr bewusst gewesen sein, und sie porträtiert sie sich ja in einem ungewöhnlich großen Format, neben dem ihr Kollege Rubens fast mickrig wirkt. Freilich mit dem Unterschied, dass er sich - etabliert, wie er ist - als Diplomat darstellt, ohne jedes Werkzeug, während sie demonstrativ vor ihrer Staffelei sitzt. Aber begreiflich, Wautiers Tun ist keineswegs selbstverständlich, sondern kühn.
Als Künstlerin muss sie sich behaupten, und sie lässt kein Genre aus. Natürlich entstehen auch Blumenbouquets, ungemein zarte sogar, doch es sind nicht die üblichen Arrangements. Wautier wählt eine Girlande zwischen zwei Rinderschädeln, frei nach den römischen Bukranienfriesen. Daneben hängt übrigens ihre einzige bekannte Zeichnung mit dem Ganymed Medici - das Motiv könnte wie die antike Girlande auf einen Aufenthalt in Italien deuten. In Brüssel war dagegen alles greifbar, Rubens‘ Haus in Antwerpen sowieso voller Antiken. Und wer weiß, ob es da nicht einen Besuch gab.

Der ergraute Jakob bekommt seine Rahel - und errötet wie ein Junger
Man wird das wohl nicht mehr klären, doch vieles erzählt ihr Werk, das nah am Leben ist. Das betrifft auch und gerade die unbekannten Köpfe, die für eine biblische oder fromme Szene herhalten. Da wäre zum Beispiel der ergraute Jakob, der nach 14-jährigem Warten und Schuften endlich seine geliebte Rahel heiraten darf und dessen Wangen vor lauter Glückseligkeit jugendlich erröten. Oder die beiden Buben, die sich um ein Frühstücksei streiten und in deren Gesichtern rührend kindlicher Ernst liegt. Mehr noch beeindrucken die kleinen Mädchen, die die Märtyrerinnen Agnes und Dorothea darstellen und bei aller faschingshaften Verkleidung doch ganz eins sind mit ihrer heiligen Rolle.

Mit entblößter Brust malt sie sich ins Gefolge des Bacchus
Immer gibt es feine Anspielungen, nichts ist dem Zufall überlassen. Weder Dorotheas melancholischer Blick, mit dem sie sich zur Schicksalsgenossin wendet, noch die entblößte Brust, mit der sich Wautier wie eine Amazone ins Gefolge des Bacchus malt. Sie ist die einzige, die in diesem weinseligen Reigen nüchtern bleibt und den Betrachter sogar neugierig fordernd mustert.
„Schau her, was hier abgeht“, scheint sie zu sagen, „ich hab’s erfunden und gemacht“. Und tatsächlich signiert Michaelina Wautier ihre Werke mit „invenit et fecit“. Sie wusste schon, was sie kann. Das sollte jetzt unbedingt weitere Kreise ziehen.
„Michaelina Wautier“ bis 22. Februar 2026 im Kunsthistorischen Museum Wien, Katalog (Belser Verlag, 192 Seiten, 39,95 Euro)
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