Sensationsschau: Das legendäre Stundenbuch des Duc de Berry

Der Herzog war verrückt nach schönen Dingen. Und wenn man den Chronisten glauben darf, hatte das auch mit dem eigenen Aussehen zu tun. Auf die Stupsnase wird gerne angespielt, die einem Mops nicht unähnlich sei, und dann war da noch dieser Quadratschädel. Doch Jean de Berry kam gar nicht erst auf die Idee, sich idealisieren oder zumindest aufhübschen zu lassen. Weder für sein prachtvolles Grabmal aus weißem und schwarzem Marmor noch im berühmtesten Buch des Mittelalters: den nach ihm benannte „Très Riches Heures“.
Vom Gebetbuch zur „Mona Lisa unter den Handschriften“
Von der „Mona Lisa unter den Handschriften“ sprechen sie auf Schloss Chantilly. Dort sind die zentralen Monatsdarstellungen dieses „sehr reichen Stundenbuchs“ in einer spektakulären Sonderschau zu sehen. Der Vergleich ist ein bisschen schräg, aber völlig legitim, um den Hype um dieses Manuskript zu erklären. Und wenn man nun die berechtigte Frage stellt, weshalb so ein Meisterwerk 40 Kilometer nördlich von Paris und nicht im Louvre oder zumindest in der Bibliothèque Nationale gezeigt wird, ist die Antwort ganz simpel: Es darf Chantilly nicht verlassen. So hat es wiederum Henri d'Orléans bestimmt, der das Buch nach einer langen Odyssee wieder in seine Heimat zurückführen konnte.
Nun pilgert man also in ein 10.000-Einwohner-Städtchen, das von einem Schloss, Pferden und ziemlich viel Wald dominiert wird - und das ist nicht verkehrt. Denn abgesehen davon, dass sich die Besucherströme im Gegensatz zu Pariser Großereignissen (noch) im Zaum halten, nähert man sich einer Welt, die einem im Stundenbuch wieder begegnet. Mit Abstrichen natürlich. Aber dieses Abbilden einer wie auch immer idealisierten Wirklichkeit macht den Zauber gerade der Monatsdarstellungen aus. Die Künstlerbrüder Limburg sind tief in den Kosmos des Herzogs und in den Alltag seiner Untertanen eingetaucht.

Im August vergnügen sich die Leute beim Nacktbaden
Man bräuchte eigentlich eine Lupe, um all die Finessen zu sehen. Ob da auf dem Oktoberblatt eine Vogelscheuche wie ein veritabler Krieger mit Pfeil und Bogen ausstaffiert ist oder ein Galan seiner Angebeteten im April ein Ringlein an den Finger steckt. Ob im August weit hinter einer mondänen Jagdgesellschaft Übermütige ungezwungen nackt im Fluss baden oder der Herzog beim Neujahrsempfang im Januar als einziger tafelt. Vermutlich bekommen die beiden Schoßhündchen auf dem Tisch mehr ab als die hochrangigen Gäste.

Es ist sowieso verrückt, was auf diesem ersten Monatsblatt alles zusammenkommt, von den winzigen tranchierten Wachteln bis zum nicht gerade zarten Herzog, der unter seinem Bärenfellhut und mit der lapislazuliblauen Robe leicht auszumachen ist.
Über 70 war Jean de Berry, als er nach mehreren auch nicht gerade karg ausgeschmückten Gebets- oder Stundenbüchern die „Très Riches Heures“ in Auftrag gab. Im Zoom erkennt man die kräftig gewordenen Krähenfüße um die Augen. Aber Jugend vergeht, was am Ende bleibt, ist die Kunst. Der Herzog wusste schon, wie man nach der Ewigkeit greift und die eigene Persönlichkeit dabei noch geschickt unterbringt.
Berry hatte keine Lust auf Kriege, er sammelte lieber Kunst
Obwohl er selbst nie die Krone trug, war Johann Sohn, Bruder und Onkel französischer Könige. Außerdem regierte er einige Jahre für seinen minderjährigen und dann geistig erkrankten Neffen Karl VI. Der Duc hätte diese Machtkonstellation sicher noch besser ausspielen können, doch das Kriegführen überließ er seinem Bruder Philipp dem Kühnen, der einen teuren Feldzug nach dem anderen unternahm, während sich im Hause Berry die Schatzkammern füllten. Und als überaus frommer Mann investiert Jean auch in Stundenbücher.
Die Mischung aus Gebeten, Ausschnitten aus Evangelien, Andachtstexten und einem Kalender mit kirchlichen Feiertagen, Heiligenfesten und Monatsdarstellungen lassen Christliches und Profanes ganz nonchalant verbinden. Wenn man so will, sind sie Begleiter durch den Alltag und eine Plattform für die vielfältigsten Miniaturen. Die „Très Riches Heures“ machen da keine Ausnahme, aber in ihrer Ausstattung und außerordentlichen Qualität sind sie freilich ein Solitär.

Drei blutjunge Flamen liefern Spitzenkunst
Über das magische Limburg-Trio ist nicht viel bekannt. Dass die um 1385 in eine Maler- und Bildschnitzerfamilie geborenen Brüder Paul, Johan und Herman virtuos unterwegs waren, sieht man. Doch wie schafften es drei blutjungen Burschen aus Flandern in so kurzer Zeit in die internationale Spitzenliga?
Ihr Onkel Johan Maelwael hatte die Brüder zur Ausbildung nach Paris vermittelt und bald in den höchsten Kreisen empfohlen. Erst wurden sie von Philipp II. von Burgund engagiert, dann 1404 von dessen Bruder Jean de Berry. Vor allem Paul, der älteste, tauschte sich intensiv mit dem Herzog aus und fast wichtiger: Die Limburgs hatten Zugang zu dessen Sammlungen und konnten die aktuelle Kunst und die Literatur, aber auch Astrolabien oder Gemmen und Münzen studieren.

Im Stundenbuch tun wir einen Blick in den Alltag des Mittelalters
Anders ist es nicht zu erklären, dass hier das Perspektivische so gekonnt gelöst wird, sich Räume öffnen, dabei alles formal und farblich bravourös komponiert ist und einem das auch noch natürlich und realistisch vorkommt. Gerade durch das Personal meinen wir, direkt ins Mittelalter zu blicken.
Das Arbeiten bis ins kleinste Detail ist eine flämische und niederländische Spezialität - die Pinselstärke dürfte im mehrfachen Nullerbereich liegen. Doch bei den Proportionen ist die Beschäftigung mit den Italienern offenkundig. Die eleganten Damen verweisen wiederum auf die schönen Madonnen der internationalen Gotik und franko-flämische Porträts. Das ist in der Schau durch Leihgaben aus der National Gallery in Washington, der Morgan Library, selbstredend aus dem Louvre und vielen weiteren Häusern gut nachzuvollziehen.
Mittendrin wurden sie alle
von der Pest dahingerafft

Der Herzog hatte sowieso klare Vorstellungen. Seine eigenen und die mit seiner Vita verbunden Schlösser zieren sämtliche Monatsblätter - auf Schloss Vincennes, das mit seinen Türmen wie ein mittelalterliches Manhattan daherkommt, wurde er geboren.
Doch 1416, als alles fabelhaft im Gange war, hat vermutlich die Pest den Auftraggeber und seine drei Künstler dahingerafft. Bis das hoch ambitionierte Projekt durch Barthélémy d’Eyck und Jean Colombe noch zu einem Ende kam, sind mehr als 70 Jahre verstrichen. Und bald begann auch schon das nächste „Abenteuer". Denn von Karl I. von Savoyen wurde die Handschrift 1489 weitervererbt und ging über Margarete von Österreich durch halb Europa. 1855 ist das Stundenbuch in Genua aufgetaucht, und nun kommt Henri d’Orléans, Duc d’Aumale ins Spiel.
Der kunstsinnige und bibliophile Sohn des letzten französischen Königs befand sich zu dieser Zeit im englischen Exil, setzte alles daran, diesen Schatz zu erwerben, und als er 1889 nach Chantilly zurückkehren konnte, wurde das Schloss zu seiner letzten Station. Die „Très Riches Heures“ bilden längst den Höhepunkt der hochkarätigen Manuskript- und Kunstsammlung des Musée Condé.
Für eine umfassende Restaurierung wurde das seit seiner Vollendung gebundene Stundenbuch auseinandergenommen. Nach dem Ende der Ausstellung am 4. Oktober wandern die Blätter wieder zurück in den Einband. Allerdings wurde jede einzelne Seite mit neuester Technik gescannt, und im Faksimile Verlag erscheint eine auf 800 Exemplare limitierte Reproduktion. Mit rund 10.000 Euro ist so ein Buch nicht eben preiswert, dafür von erlesener Qualität. Eine Präsentation der Originale verbietet sich in den nächsten Jahrzehnten, und einzeln wie jetzt in Klimavitrinen wird man die „Très Riches Heures“ sowieso nie mehr zu Gesicht bekommen.
"Les Très Riches Heures du Duc de Berry": Bis 4. Oktober 2025 auf Schloss Chantilly, mehr auf www. chateaudechantilly.fr. Der deutsche Katalog ist im Belser Verlag erschienen (384 Seiten, 69 Euro). Eine aufwendige, täuschend echte Reproduktion des Manuskripts erscheint im Faksimile Verlag