„Reshaping Reality“ im Bergson: Kunst springt in eine neue Dimension

Kennen Sie das geriffelt gefaltete kleine Papierschälchen, in dem manchmal Pralinen eingelegt sind? So etwas bekommt man am Eingang in die Hand, gefüllt mit Schokostreuseln verschiedener Geschmacksrichtungen. Und dann setzt man die VR-Brille auf, die etwas an die "Star-Wars"-Trooper erinnert.Schräg gegenüber steht man nun vor einem Schokoladenbild, das nicht virtuell, sondern wirklich vor einem hängt.
Im Rahmen sind Kakao-Schokoladenflächen in verschiedenen Brauntönen verwischt, sodass man auch an gebrannte Tonerden glauben könnte, wenn es nicht sanft nach Schokolade röche – denn die Nase bleibt unter der VR-Brille frei.
Oh Schreck, der Schokoladenfleck ist wieder weg
Hat man die Schokostreusel noch nicht gegessen, kann man sich nun leicht drehen zu einer weißen, dazugehörigen Leinwand und: Man darf die Streusel nun werfend an die Wand klatschen. Auf der Leinwand entsteht – je nach Wucht und Masse – ein wunderbarer großer, verfließender und verspritzter Schokofleck.

Nur, oh Schreck: Nimmt man die Brille ab, was man im ganzen Raum auch machen kann, gibt es ihn nicht mehr. An der weißen unberührten Wand hängt kein Rahmen und der eigens kreierte Schokofleck ist weg, nur die Streusel am Boden verraten, dass man wirklich geworfen hat.
Malend oder bildhauerisch anfangen und dann in die Virtualität springen
In diesem realen Schoko-Werk von Leila Raabe, das durch eine digitale Arbeit von Stefan Göppel interaktiv erweitert wurde, steckt die Grundidee aller hier gezeigten Werke: Unter dem Titel "Reshaping Reality", sind Werke von Künstlern zu sehen, die plastisch beginnen und in den digitalen Raum erweitert sind.
Der südtiroler Holzschnitzer Peter Demetz wiederum schafft gleich daneben eine Raum-Illusion – aber ganz real plastisch: Mit einer sakral beleuchteten Rahmenstaffelung in einem großen Guckkasten wird Raumtiefe suggeriert. Diese betritt ein geschnitztes, modernes Paar – sie in enger Jeans und er im T-Shirt.

Das wirkt frech, wenn man diese feine Porträtarbeit mit Herrgottschnitzereinen vergleicht. Denn an vielen Kirchen-Eingängen stehen ja Schilder, die ein zu freizeitliches Outfit im Gottesraum verbieten. Ganz in der Nähe, in einem durch Stellwände leicht abgetrennten Raum, steht ein Holzstumpf mit eingeschlagenem Beil, womit Torsten Muehlbach darauf Bezug nimmt, dass pro Sekunde auf der Welt ein Baum gefällt wird – nur für Ikea. Die Skulptur ist spiegelstückchen-beklebt wie eine Discokugel, was die dunklen Wände mit Lichtpunkten betupft.
Kein Wandloch, aber Plüsch im Panic Room
Setzt man sich auf einen der Stühle in diesem Separee, beginnt plötzlich blauer Rauch wie ein Flaschengeist aus "1001 Nacht" im Raum gespensterhaft zu flirren und zu wabern. Langsam wird er plastischer, erinnert immer mehr an die Computer-Figuren der Kraftwerk-Musiker: durchsichtig, aber von Leuchtlinien definiert.
Das Wesen tanzt im Raum – natürlich nur, wenn man die Brille aufgelassen hat. Es ist das Werk des Mitkurators auf diesem Stockwerk, Stefan Göppel des Münchner XR-Studios Govar, der hier viele plastische Werke in Absprache mit den Künstlerinnen und Künstlern digital erweitert hat: inklusive eines riesigen Mauerlochs, das eine wirklich im Raum hängende Riesen-Abrissbirne geschlagen zu haben scheint.

Die wiederum aber hat eine große Klappe. Man kann ins hohle Innere der Stahlkugel greifen – und spürt, wie sie vom Münchner Künstler Holger Dreissig flokati-artig mit Plüsch ausgeschlagen wurde. Die scheinbare Wucht, die mit dem virtuellen Wandloch suggeriert wurde, ist Illusion und weicht echter Weichheit dieses "Pink Panic Rooms".
Stargalerist Johann König reduziert seine Fläche
„Kunstkraftwerk“ nennt sich das Bergson offiziell. Aber gegen die Verwicklungen des Galerie-Betriebs im Bergson ist die wilde virtuelle Realität auf der dritten Ebene im modernen Galerie-Anbau geordnet. Denn der hippe Berliner Kult-Galerist Johann König ist aus dem Gebäude raus, bespielt aber noch eine Zeit lang Ebene eins und zwei – und zieht sich dann ganz in die Kunst-Silos zurück, die im historischen Backsteingebäude an der 25-Meter hohen Decke hä ngen.

In den bisher freigewordenen Ebenen drei und vier ist jetzt das hauseigene "Digital Arts Center" eingezogen, das internationale und regionale Künstler, die mit Digitalität arbeiten, einen Raum in München geben soll: "Chapter #1" ist jetzt der Auftakt mit 20 Künstlerinnen und Künstlern.
Auf Ebene drei läuft man mit VR-Brille herum, auf der vierten ist man wieder unbebrillt im Raum, kann aber mit einem QR-Code neben den Bildern, die Kunstgegenstände, die man vor sich hat, optisch erweitern. Was alles erst einmal kompliziert klingt, ist durchaus technisch machbar und witzig, auch für jemanden, der noch nie eine VR-Brille aufhatte oder wie jetzt – auf der vierten Ebene, nur selten QR-Codes mit dem Handy scannt.
Ein irrer Titel: "Digital Arts Center, featuring Emixar, Chapter #1: Reshaping Reality"
Man darf sich also weder technisch noch vom verwirrenden Titel der Ausstellung im Bergson, Galerie Ebene 3 und 4 abschrecken lassen: "Digital Arts Center, featuring Emixar, Chapter #1: Reshaping Reality". Sich mit Ugo Dossi in die Documenta und ins Weltall stürzen. In der luftigeren vierten Ebene zeichnet dann ein mechanisches Marionetten-Gestell nach einem Zufallsprinzip geometrische Figuren (installiert von Robert Balke). Und die Dreidimensionalität ist beim Schweizer David Pflugis real plastisch.

Der Klassiker Ugo Dossi kippt ins Weltall
Man kann die große, an der Wand hängende, wilde Plastik, die wie aus filigranem Pappmachée wirkt, kunstvoll aufgefächert und wild bemalt ist, 180 Grad umschreiten. Dabei verwandelt sich das Porträt von Angela Merkel aus gesehen beim Umschreiten am Ende zum Seehofer. Ob das politisch gemeint ist? Von "Wir schaffen das!" zur bereits 2015 geforderten "Begrenzung der Zuwanderung für die Sicherheit in diesem Lande?"
Dass der Übergang von einem Porträt zum anderen mit einer wilden Mischung aus europäischen Kunstgeschichtsfragmenten – Reiterstandbilder, Architektur verschiedener Epochen – garniert ist, macht es noch interessanter.
Eines der schönsten Erlebnisse ist, wenn man vor einem Werk des 81-jährigen Deutsch-Italieners aus München, Ugo Dossi, steht, dass er auf schwarzem Hintergrund mit weißen Farbspritzern und feinsten weißen Punkten für die Documenta 1987 geschaffen hat: Ein filigraner Sternenhimmel, wie man ihn vielleicht mit einem Fernglas in der stockfinsteren Wüste sehen könnte. Mit der VR-Brille tritt man näher und kippt in einen 360-Grad-Weltraum, sodass man im All zu schweben scheint. Und die Schokokrümel vom Wurf zu Beginn der Ausstellung muss man nicht selbst wieder aufkehren.
Bergson Kunstkraftwerk, Aubing, bis Herbst, immer Mittwoch bis Sonntag, jeweils 11 bis 19 Uhr, Eintritt: 26/19 Euro, 6 – 17 Jahre: 13 Euro, inklusive VR-Brille, www.bergson.com