Kritik

Moderne Meisterwerke in Schloss Herrenchiemsee

Die Pinakothek der Moderne zeigt Kunst des 20. Jahrhunderts unter dem Motto „Könnt ihr noch? -Kunst und Demokratie“ auf der Herreninsel im Chiemsee
von  Roberta De Righi
Sheila Hicks Riesenarbeit „Saffron Sentinel“ von 2017 macht sich ganz fabelhaft in den unverputzten Räumen von Schloss Herrenchiemsee. Dahinter sieht man ein weiteres Werk der 92-jährigen Künstlerin.
Sheila Hicks Riesenarbeit „Saffron Sentinel“ von 2017 macht sich ganz fabelhaft in den unverputzten Räumen von Schloss Herrenchiemsee. Dahinter sieht man ein weiteres Werk der 92-jährigen Künstlerin. © Haydar Koyupinar/Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Der „Fallende Krieger“ von Henry Moore liegt schon am Boden, die Gestalten in Ida Applebroogs fünfteiligem Gemälde „Goya Road“ sind am Ertrinken, die „Bauernholzträger“ in Max Beckmanns gleichnamigem Bild schleppen schwere Lasten durch ihre garstige Realität und Joseph Beuys„ „Rose für die direkte Demokratie“ welkt langsam.

Angesichts von Krieg und Krisen allerorten ist die Frage fast impertinent: Unter dem provokanten Titel „Könnt ihr noch? - Kunst und Demokratie“ setzen die Staatsgemäldesammlungen heuer das Projekt „Königsklasse“ auf Schloss Herrenchiemsee in der vierten Staffel fort.

Die Frage, die das Kuratoren-Team Verena Hein und Oliver Kase herausfordernd an den Anfang stellt, geht auf den gleichnamigen Elektro-Song von Deichkind zurück, der die Ermüdungserscheinungen einer durchkommerzialisierten Gesellschaft benennt - und sogar mitsamt KI-Videoclip und Silikon-Sänger seinen Weg auf die Insel gefunden hat.

Das Schloss Herrenchiemsee auf der Herreninsel im Chiemsee.
Das Schloss Herrenchiemsee auf der Herreninsel im Chiemsee. © picture alliance/dpa

Stärker politisch aufgeladen wird die Verfasstheits-Erkundung im Kontext des Verfassungskonvents, der in Herrenchiemsee im August 1948 tagte: Quasi die Keimzelle der Bundesrepublik, weil hier - nicht im Schloss, sondern im benachbarten Kloster! - die Grundlinien des Grundgesetzes erarbeitet wurden.

„Einer Pflanze das Alphabet beibringen“

Doch Demokratie ist kein Selbstläufer, und Teilhabe bedeutet mitunter vergeblich wirkende Anstrengung wie in John Baldessaris immer noch großartig-absurdem Film „Einer Pflanze das Alphabet beibringen“. Darum haben sich Hein und Kase in den Beständen auf die Suche gemacht nach Exponaten, in denen demokratische Werte und Ideale aufscheinen - Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde - oder die Schatten ihrer Abwesenheit dargestellt.

Andy Warhol zieht vor Joseph Beuys den Hut, 1980.
Andy Warhol zieht vor Joseph Beuys den Hut, 1980. © The Andy Warhol Foundation/Sibylle Forster

Einige kostbare Schiffsladungen mussten dafür über den See gefahren werden, insgesamt über 50 Arbeiten, darunter Meisterwerke der Klassischen Moderne von Beckmann, Kirchner, Picasso - und sogar Francis Bacons monumentales Triptychon „Kreuzigung“ fand den Weg auf die Insel, deren wahre Herrscher - den Touristenmassen zum Trotz - doch eher die Wasservögel sind.

Mitten im dichten Grün taucht wie eine Fata Morgana König Ludwigs II. unvollendetes Schloss auf, errichtet ab 1878 als neobarockes Mini-Versailles und nach dem Tod des Märchenkönigs 1886 nie fertiggestellt - ein Abziehbild des erledigten Absolutismus. Während man auf der Tour durch die Prunkräume des Königs Pomp bestaunen kann, imponieren die unverputzten Raumfluchten der unvollendeten Nordseite des Schlosses durch architektonischen Purismus.

Appetit auf München

Die Ausstellung ist ein doppelter Impuls: Sie soll dem Schloss-Publikum, dessen Tickets ebenfalls für die „Königsklasse“ gelten, jenseits des berühmten „Tischlein deck dich“ und des Spiegelsaals Appetit auf die Sammlungen in München machen. Und zugleich jenen etwas bieten, die sich freuen, die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts im herrschaftlichen Kontext anders zu sehen.

Eine „Spannungsfiguration“ von Maria Lassnig aus dem Jahr 1961.
Eine „Spannungsfiguration“ von Maria Lassnig aus dem Jahr 1961. © Foto: Maria Lassnig Stiftung/N. Wilhelms/BStGS

In neun Kapiteln mit Titeln wie „Wunden und Brüche“, „Frei/unfrei“, „Balanceakt“ oder „Kreativität und Spiel“ werden locker Werke von Antes bis Wols und Beuys bis Warhol aufgefädelt, allerdings erschließt sich nicht immer der rote Faden von selbst.

Wobei sich ja auch nicht selten die Künstler wie Sonnenkönige aufführten. So macht sich der Meister in Picassos Hochformat „Der Maler und sein Modell“ unermüdlich mit dem Pinsel an der Welt zu schaffen, die seiner Palette zu Füßen liegt - nur die Modelle wechselten bekanntlich häufiger. Neben Alpha-Maler wie Jörg Immendorff und den auf leisere Weise ebenso größenwahnsinnigen Anselm Kiefer treten hier Maria Lassnig, Rosemarie Trockel und einige weniger bekannte Künstlerinnen wie Lisa Brice und Judit Reigl. Dennoch sind die Frauen - den Sammlungsbeständen entsprechend - trotz aller kuratorischen Bemühungen noch in der Unterzahl.

Das Schloss Herrenchiemsee.
Das Schloss Herrenchiemsee. © Pinakothek der Moderne

Das Treppenhaus in seiner anmutigen Unfertigkeit hat man denn auch generös Thomas Schütte überlassen. Er darf es nun fast Ludwig II.-like mit brandneuen Keramikskulpturen in Besitz nehmen: Seine erratischen, übergroßen „Experten“-Köpfe flankieren das Treppenpodest, und in der Mitte lässt sich „Mutter Erde“ anhimmeln.

Pablo Picassos „Le peintre et son modèle“ aus dem Jahr 1963.
Pablo Picassos „Le peintre et son modèle“ aus dem Jahr 1963. © oto: BStGS/Andreas Werner/Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Hier bekommt immerhin noch die 92-jährige US-Textilkünstlerin Sheila Hicks einen ihrer beiden großen Auftritte: Wie ein Wasserfall ergießt sich in „Aprentizaje de la Victoria“ (Vom Sieg lernen) ein gewaltiger Schwall orange-gelber Wollfäden aus der Bel Etage auf den Boden. Oder erinnert die Woll-Kaskade eher an die Haarpracht von Rapunzel? Gerade angesichts dieser Sinnlichkeit und Opulenz lässt sich „Könnt ihr noch?“ nur als Warnung verstehen: Die Zeiten könnten lausiger werden.

Bis 12. Oktober, täglich 9 bis 17.30 Uhr, Eintritt 14 Euro; kostenlose Führungen jeden Fr um 15, Sa um 12 und 13 sowie So um 13, 14 und 15 Uhr

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