Kritik

Fotografie in der Pinakothek: Sehen und gesehen werden

On View: Die Pinakothek der Moderne zeigt die beeindruckende Bandbreite der hauseigenen Fotografiesammlung - mit Formaten, die nicht immer zueinander passen
Autorenprofilbild Christa Sigg
Christa Sigg
|
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Thomas Struth hat das „Art Institute of Chicago“ 1990 aufgenommen. Die Besucherin mit Gehwagerl steht vor einer Pariser Straßenszene von Gustave Caillebotte.
Thomas Struth/2022 aus der Sammlung Lothar Schirmer erworben/Bayerische Staatsgemäldesammlungen 5 Thomas Struth hat das „Art Institute of Chicago“ 1990 aufgenommen. Die Besucherin mit Gehwagerl steht vor einer Pariser Straßenszene von Gustave Caillebotte.
Hingucker in der Ausstellung: Vor genau 100 Jahren hat sich Germaine Krull mit ihrer Icarette selbst porträtiert.
Nachlass Germaine Krull / Stiftung Wilde / Bayerische Staatsgemäldesammlungen 5 Hingucker in der Ausstellung: Vor genau 100 Jahren hat sich Germaine Krull mit ihrer Icarette selbst porträtiert.
Die berühmten Brown Sisters im Jahr 1984. Nicholas Nixon hat Heather, Mimi, Bebe und Laurie von 1975 bis 2022 jedes Jahr fotografiert. In der Ausstellung ist die komplette Serie zu sehen.
Repro Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Sibylle Forster © Nicholas Nixon, courtesy, Fraenkel Gallery, San Francisco 5 Die berühmten Brown Sisters im Jahr 1984. Nicholas Nixon hat Heather, Mimi, Bebe und Laurie von 1975 bis 2022 jedes Jahr fotografiert. In der Ausstellung ist die komplette Serie zu sehen.
Aenne Biermanns Blick aus dem Atelierfenster von 1929.
Repro Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Sibylle Forster / Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München 5 Aenne Biermanns Blick aus dem Atelierfenster von 1929.
Friedrich Seidenstücker war viel unterwegs auf den Straßen Berlins und nah dran an den Leuten. Hier ein Altpapierträger, aufgenommen im Jahr 1930.
Repro Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Nicole Wilhelms / Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München 5 Friedrich Seidenstücker war viel unterwegs auf den Straßen Berlins und nah dran an den Leuten. Hier ein Altpapierträger, aufgenommen im Jahr 1930.

Einfach mal zeigen, was man hat - das tun große Häuser viel zu selten und meistens auch erst dann, wenn das Geld für ambitionierte Ausstellungen mit allerlei kostspieligen Leihgaben fehlt. Seit Juni demonstriert die Alte Pinakothek, dass in deren Depots so ziemlich alles steckt, was eine gute ausführliche Sonderschau ausmacht. Und sicher nicht nur eine. Jetzt folgt die Pinakothek der Moderne.

Während sich nun also in der Alten Pinakothek die Altdeutschen, die Frühen Niederländer und die Flamen begegnen und ihre oft sehr üppigen Geschichten ausbreiten, ist es vis-à-vis das Fotografische aus den letzten 100 Jahren. In diesem Fall aus der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, die sich auf die 1920er und 30 Jahre konzentriert, sowie der Sammlung Fotografie und Zeitbasierte Medien, deren Werke bis in die jüngste Gegenwart reichen.

Korpsmützen sind so witzig
wie die Ohren von Mickey Mouse

Man kann hier tatsächlich Entwicklungen verfolgen, und das ohne große Worte. Vieles erklärt sich von selbst. Ob Albert Renger-Patzsch 1922 in einen mexikanischen Kandelaberkaktus zoomt oder Eva-Maria Schön 2019 im Rahmen ihrer Serie „Unschärfe“ einen Spinnenkopf - auch eine Pflanze - verwuschelt ins Visier nimmt. Ob August Sander 1925 einen Korpsstudenten mit Tönnchen (Mütze) porträtiert oder der früh verstorbene Kolumbianer Juan Pablo Echeverri 2016 einen Anonymus mit Mickey-Mouse-Ohren im Stil eines Scherenschnitts ablichtet.

Hingucker in der Ausstellung: Vor genau 100 Jahren hat sich Germaine Krull mit ihrer Icarette selbst porträtiert.
Hingucker in der Ausstellung: Vor genau 100 Jahren hat sich Germaine Krull mit ihrer Icarette selbst porträtiert. © Nachlass Germaine Krull / Stiftung Wilde / Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Wobei sich wieder einmal die Frage stellt, weshalb die „jüngsten“ Abteilungen so stoisch unter sich bleiben und die Zeit vor 1900 ausgeklammert wird. Durch die Bestände der geschlossenen Neuen Pinakothek hätte sich eine spannende Weitung ergeben. Gerade bei Themen wie dem Landschaftsraum, dem Körper und selbst bei den „verborgenen Dimensionen hinter den Bildern“.

Bekanntes und nie Gesehenes
tritt in einen klugen Dialog

Aber die Staatssammlung Moderner Kunst scheint ihrem Namen und dem Gebäude verpflichtet, zumal die Kuratorinnen Simone Förster und Franziska Kunze auch so aus dem Vollen schöpfen konnten, um Bekanntes und nie Gesehenes in einen Dialog treten zu lassen. Manchmal mit bizarren Steigerungen.

Friedrich Seidenstücker war viel unterwegs auf den Straßen Berlins und nah dran an den Leuten. Hier ein Altpapierträger, aufgenommen im Jahr 1930.
Friedrich Seidenstücker war viel unterwegs auf den Straßen Berlins und nah dran an den Leuten. Hier ein Altpapierträger, aufgenommen im Jahr 1930. © Repro Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Nicole Wilhelms / Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München

Jens Kleins 60 Menschen am Briefkasten aus der vielsagenden Werkgruppe „Hundewege“ (2012) sind in ihrer ins Serielle übertragenen Banalität köstlichstes Groß-Daumenkino, doch erst in der Nachbarschaft zu Friedrich Seidenstückers zuweilen berührenden Straßenszenen oder Duane Michals „Momenten vor der Tragödie“ wirklich komisch.

Jeff Walls Leuchtkästen brauchen kein Gegenüber

Es gibt allerdings auch Arbeiten, die so eigenständig sind und in ihrer Rätselhaftigkeit immer wieder auf sich verweisen, dass sie Solisten bleiben. Jeff Walls Leuchtkästen zum Beispiel. Und hier ist auch noch ein nur auf den ersten Blick biederes Wohngebiet ins Bild gebracht. Die in einem Vorgarten streitenden drei Männer und ein schnell abgestelltes Auto kurbeln das Kopfkino kräftig an. Aber das ist Walls bis zur Perfektion ausgetüfteltes modernes Mysterienspiel, das definitiv in eine „On View“ bezeichnete Ausstellung gehört.

Die berühmten Brown Sisters im Jahr 1984. Nicholas Nixon hat Heather, Mimi, Bebe und Laurie von 1975 bis 2022 jedes Jahr fotografiert. In der Ausstellung ist die komplette Serie zu sehen.
Die berühmten Brown Sisters im Jahr 1984. Nicholas Nixon hat Heather, Mimi, Bebe und Laurie von 1975 bis 2022 jedes Jahr fotografiert. In der Ausstellung ist die komplette Serie zu sehen. © Repro Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Sibylle Forster © Nicholas Nixon, courtesy, Fraenkel Gallery, San Francisco

Es stimmt schon, man klebt vor allem an den Menschen. An einem Mädchengesicht mit ausdrucksstarken Augen von Thomas Ruff, an Marie Jo Lafontaines stillem, in sich gekehrten Ruhrpott-Buben und natürlich an den berühmten Brown-Sisters Heather, Mimi, Bebe und Laurie, die sich von 1975 bis 2022 jedes Jahr von ihrem Schwager bzw. Ehemann Nicholas Nixon ohne besonderes Drumherum fotografieren ließen. Man fixiert selbst die Beine, die in einem eigentümlichen Haufen aus Socken oder dergleichen stecken (Birgit Jürgenssen), Louise Lawlers unzählige Fingerhüte, die auf Frauenschicksale schließen lassen, und natürlich Marcia Resnicks mit Watte ausgestopften Silber-BH, der mächtig unter Wolkendampf steht.

Wolfgang Tillmans überzeugt mit einem simplen Papierbogen

Deshalb ist eine der aufregendsten Aufnahmen: Germaine Krulls Selbstporträt hinter der Kamera - mit Zigarette, Siegelring sowie einem Sucher, den man für ihr Auge halten könnte. Und das bei allen aufregenden Raumvermessungen, und derer gibt es einige herrlich irritierende, selbstredend auch vom aktuellen Superstar Wolfgang Tillmans. Sein leicht eingerollter, schattenwerfender Papierbogen (2001) bildet hier eine frappierende Ergänzung zu Florence Henris „Composition“ (1931-33).

Thomas Struth hat das „Art Institute of Chicago“ 1990 aufgenommen. Die Besucherin mit Gehwagerl steht vor einer Pariser Straßenszene von Gustave Caillebotte.
Thomas Struth hat das „Art Institute of Chicago“ 1990 aufgenommen. Die Besucherin mit Gehwagerl steht vor einer Pariser Straßenszene von Gustave Caillebotte. © Thomas Struth/2022 aus der Sammlung Lothar Schirmer erworben/Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Was dagegen stört, ist das Kombinieren oft sehr unterschiedlicher Formate. Das mag manchmal nicht zu vermeiden sein, doch Aenne Biermann tut man keinen Gefallen, ihren geradezu winzigen „Blick aus dem Atelierfenster“ (1929) neben Thomas Struths Museumsaufnahme aus dem „Art Institute of Chicago“ (1990) zu hängen. Gut 17 Zentimeter und fast 175 Zentimeter Breite mögen die Größendimensionen, zwei wichtige Sammlungsschwerpunkte und freilich auch die Qualität andeuten. Für einen Auftakt, der aus der Ferne Lust auf die Schau machen soll, ist das etwas dürftig. Wer sich an solchen Unterschieden nicht stört, wird dagegen famose Eindrücke sammeln.

„On View“ bis 12. Oktober 2025, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr in der Pinakothek der Moderne, Begleitband (Hatje Cantz, 178 Seiten, 160 Abbildungen, im Museum 32, im Buchhandel 48 Euro)

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.