Fotografie in der Pinakothek: Sehen und gesehen werden
Einfach mal zeigen, was man hat - das tun große Häuser viel zu selten und meistens auch erst dann, wenn das Geld für ambitionierte Ausstellungen mit allerlei kostspieligen Leihgaben fehlt. Seit Juni demonstriert die Alte Pinakothek, dass in deren Depots so ziemlich alles steckt, was eine gute ausführliche Sonderschau ausmacht. Und sicher nicht nur eine. Jetzt folgt die Pinakothek der Moderne.
Während sich nun also in der Alten Pinakothek die Altdeutschen, die Frühen Niederländer und die Flamen begegnen und ihre oft sehr üppigen Geschichten ausbreiten, ist es vis-à-vis das Fotografische aus den letzten 100 Jahren. In diesem Fall aus der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, die sich auf die 1920er und 30 Jahre konzentriert, sowie der Sammlung Fotografie und Zeitbasierte Medien, deren Werke bis in die jüngste Gegenwart reichen.
Korpsmützen sind so witzig
wie die Ohren von Mickey Mouse
Man kann hier tatsächlich Entwicklungen verfolgen, und das ohne große Worte. Vieles erklärt sich von selbst. Ob Albert Renger-Patzsch 1922 in einen mexikanischen Kandelaberkaktus zoomt oder Eva-Maria Schön 2019 im Rahmen ihrer Serie „Unschärfe“ einen Spinnenkopf - auch eine Pflanze - verwuschelt ins Visier nimmt. Ob August Sander 1925 einen Korpsstudenten mit Tönnchen (Mütze) porträtiert oder der früh verstorbene Kolumbianer Juan Pablo Echeverri 2016 einen Anonymus mit Mickey-Mouse-Ohren im Stil eines Scherenschnitts ablichtet.

Wobei sich wieder einmal die Frage stellt, weshalb die „jüngsten“ Abteilungen so stoisch unter sich bleiben und die Zeit vor 1900 ausgeklammert wird. Durch die Bestände der geschlossenen Neuen Pinakothek hätte sich eine spannende Weitung ergeben. Gerade bei Themen wie dem Landschaftsraum, dem Körper und selbst bei den „verborgenen Dimensionen hinter den Bildern“.
Bekanntes und nie Gesehenes
tritt in einen klugen Dialog
Aber die Staatssammlung Moderner Kunst scheint ihrem Namen und dem Gebäude verpflichtet, zumal die Kuratorinnen Simone Förster und Franziska Kunze auch so aus dem Vollen schöpfen konnten, um Bekanntes und nie Gesehenes in einen Dialog treten zu lassen. Manchmal mit bizarren Steigerungen.

Jens Kleins 60 Menschen am Briefkasten aus der vielsagenden Werkgruppe „Hundewege“ (2012) sind in ihrer ins Serielle übertragenen Banalität köstlichstes Groß-Daumenkino, doch erst in der Nachbarschaft zu Friedrich Seidenstückers zuweilen berührenden Straßenszenen oder Duane Michals „Momenten vor der Tragödie“ wirklich komisch.
Jeff Walls Leuchtkästen brauchen kein Gegenüber
Es gibt allerdings auch Arbeiten, die so eigenständig sind und in ihrer Rätselhaftigkeit immer wieder auf sich verweisen, dass sie Solisten bleiben. Jeff Walls Leuchtkästen zum Beispiel. Und hier ist auch noch ein nur auf den ersten Blick biederes Wohngebiet ins Bild gebracht. Die in einem Vorgarten streitenden drei Männer und ein schnell abgestelltes Auto kurbeln das Kopfkino kräftig an. Aber das ist Walls bis zur Perfektion ausgetüfteltes modernes Mysterienspiel, das definitiv in eine „On View“ bezeichnete Ausstellung gehört.

Es stimmt schon, man klebt vor allem an den Menschen. An einem Mädchengesicht mit ausdrucksstarken Augen von Thomas Ruff, an Marie Jo Lafontaines stillem, in sich gekehrten Ruhrpott-Buben und natürlich an den berühmten Brown-Sisters Heather, Mimi, Bebe und Laurie, die sich von 1975 bis 2022 jedes Jahr von ihrem Schwager bzw. Ehemann Nicholas Nixon ohne besonderes Drumherum fotografieren ließen. Man fixiert selbst die Beine, die in einem eigentümlichen Haufen aus Socken oder dergleichen stecken (Birgit Jürgenssen), Louise Lawlers unzählige Fingerhüte, die auf Frauenschicksale schließen lassen, und natürlich Marcia Resnicks mit Watte ausgestopften Silber-BH, der mächtig unter Wolkendampf steht.
Wolfgang Tillmans überzeugt mit einem simplen Papierbogen
Deshalb ist eine der aufregendsten Aufnahmen: Germaine Krulls Selbstporträt hinter der Kamera - mit Zigarette, Siegelring sowie einem Sucher, den man für ihr Auge halten könnte. Und das bei allen aufregenden Raumvermessungen, und derer gibt es einige herrlich irritierende, selbstredend auch vom aktuellen Superstar Wolfgang Tillmans. Sein leicht eingerollter, schattenwerfender Papierbogen (2001) bildet hier eine frappierende Ergänzung zu Florence Henris „Composition“ (1931-33).

Was dagegen stört, ist das Kombinieren oft sehr unterschiedlicher Formate. Das mag manchmal nicht zu vermeiden sein, doch Aenne Biermann tut man keinen Gefallen, ihren geradezu winzigen „Blick aus dem Atelierfenster“ (1929) neben Thomas Struths Museumsaufnahme aus dem „Art Institute of Chicago“ (1990) zu hängen. Gut 17 Zentimeter und fast 175 Zentimeter Breite mögen die Größendimensionen, zwei wichtige Sammlungsschwerpunkte und freilich auch die Qualität andeuten. Für einen Auftakt, der aus der Ferne Lust auf die Schau machen soll, ist das etwas dürftig. Wer sich an solchen Unterschieden nicht stört, wird dagegen famose Eindrücke sammeln.
„On View“ bis 12. Oktober 2025, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr in der Pinakothek der Moderne, Begleitband (Hatje Cantz, 178 Seiten, 160 Abbildungen, im Museum 32, im Buchhandel 48 Euro)