documenta-Chefin: Nicht jeder Besucher muss alles sehen

Die documenta nähert sich ihrem Ende. Chefin Carolyn Christov-Bakargiev ist zufrieden – und sie hat mehr Kritik erwartet.
Timo Lindemann |
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Die documenta nähert sich ihrem Ende. Chefin Carolyn Christov-Bakargiev ist zufrieden – und sie hat mehr Kritik erwartet.

Besucherrekord zur Halbzeit, kaum Kritik am Konzept - vier Wochen vor dem Ende der Kunstausstellung documenta in Kassel ist die künstlerische Leiterin, Carolyn Christov-Bakargiev, zufrieden. Die Kuratorin der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst sinniert im Interview über Zeit und Kunst.

In vier Wochen ist die documenta vorbei und es gab kaum Kritik am Konzept. Haben Sie das so erwartet?
Carolyn Christov-Bakargiev: Nicht in diesem Maße. Ich habe mehr Kritik erwartet, weil die documenta normalerweise einiges an Kritik hervorruft. Ich war auf viele interessante Debatten eingestellt, die aber nicht gekommen sind. Das habe ich nicht erwartet. Aber wenn sie mich fragen, ob ich darüber glücklich bin: Natürlich! Das ist super! Das ist großartig.“

Kritisiert wurde allerdings, dass mit einem Fokus auf Tiere und Pflanzen Kunst austauschbar ist und sie damit an deren Abschaffung arbeiten.
Das ist wirklich interessant. Es gibt nur wenige Werke, die sich mit Tieren beschäftigen, wie Brian Jungen oder Kristina Buch. Es gibt nicht wirklich viele Werke, die diese Vision ausdrücken, ich hätte gern mehr gehabt. Ich sehe das nicht als Kritik, denn es betrifft nur ein paar Kunstwerke. Wenn man die documenta sieht: Es gibt so viel Kunst für Menschen und von Menschen gemacht.“

Warum wollen so viele Menschen die documenta sehen?
Es ist interessant, dass wir die Zahl der  Dauerkarten verdoppelt haben. Die Leute verstehen, dass sie diese documenta in ihrem eigenen Tempo erfahren können. Das ist für mich ein Zeichen des Erfolgs. Der Besucher will keine schnelle Erfahrung, er will zur documenta gehören und die documenta gehört für eine gewisse Zeit zu ihm. Das ist wichtig für mich.

Sie haben Bundespräsident Joachim Gauck getroffen und Brad Pitt. Gauck ist ehemaliger Pastor, sie gelten nicht gerade als große Unterstützerin der Religion. Haben Sie sich darüber ausgetauscht, und wie war es mit Brad Pitt?
Der Präsident war so nett. Wenn du dem Bundespräsidenten die Ausstellung zeigst, sprichst du natürlich über die Ausstellung. Und du beschreibst sie, denn du hast nur kurz Zeit. Und dann konzentrierst du dich auf die Ausstellung. Deshalb habe ich nicht mit ihm über Religion gesprochen. Ich glaube aber, diese documenta ist sehr spirituell. Es gibt viele Kunstwerke, die eine große Spiritualität haben. Ich bin nicht gegen Religion. Ich glaube, dass es für die Menschen wichtig ist zu reflektieren und über die Werte nachzudenken. Ich bevorzuge keine Religion. Es gibt so viele Qualitäten im Islam, im Judentum oder im Christentum. Und ich glaube nicht, dass es eine gibt, die besser ist als alle anderen.“

Und wie war es mit dem Hollywoodstar?
Es war sehr interessant. Ich glaube, ihm hat die Ausstellung gefallen. Wir hatten nicht viel Zeit. Er mag Kunst und er ist interessiert an Dingen außerhalb der Welt, in der er sich normalerweise befindet. Es war das erste Mal, dass ich ihn getroffen habe – und ich habe ihn auch danach nicht noch einmal getroffen (lacht).

Die Stadt Kassel hat einige hunderttausend Euro, um documenta-Kunst anzukaufen. Welches Kunstwerk würden Sie empfehlen?
Ich glaube, es ist nicht meine Aufgabe, solche Vorschläge zu machen. Ich habe keine Favoriten, aber es gibt Werke, die wichtig sind für das Verständnis der Ausstellung.

Welche sind das?
Es gibt ein paar Kunstwerke, die sind der Schlüssel, um diese documenta zu verstehen. Es gibt etablierte Künstler wie William Kentridge. Sein Kunstwerk ist ein Symbol für diese documenta. Denn es heißt "The refusal of time" (Die Ablehnung der Zeit). Es lehnt die Geschwindigkeit des digitalen Zeitalters ab. Es geht darum, eine Zeit zu kreieren, die anders ist als die Zeit, in der wir leben im digitalen Zeitalter. Es gibt viele Ausstellungsorte, und die Besucher haben viel Zeit, alles zu sehen. Und zwischen dem einen und dem anderen Kunstwerk ist Zeit, nachzudenken. Das hat mit Runterkommen zu tun. Ich glaube auch nicht, dass jeder Besucher alles sehen muss. Sie können ihren eigenen Parcours machen. Ein anderes Werk zum Verständnis der documenta ist von Pierre Huyghe mit diesem Labor des Lebens. Es ist mitten im sehr organisierten Auepark, aber es sieht aus wie eine Müllhalde. Es sieht aus wie eine Matrix des Lebens mit Ameisen und Pflanzen und Hunden und Bienen, und es gibt eine Statue. Die Frage der Bienen ist für mich sehr wichtig. Die Skulptur spricht zu den Bienen und die Bienen zu der Skulptur und sie beschützen einander. Das ist eine Allianz von Kunst und Natur.

Und was noch?
Dann der schöne Film im Bali-Kino über das Erdbeben in Japan, über den Tsunami und die Atomkatastrophe in Japan. Es gibt noch andere Werke, die sinnbildlich sind für die Ausstellung. Mariam Ghani aus der Afghanistan-Sektion. Ich liebe die documenta, aber ich hätte die documenta in Kassel nie gemacht, wenn ich nicht das Projekt in Afghanistan hätte machen können. 35 000 Menschen in der Kabul-Ausstellung. Es ist die meistbesuchte Ausstellung in der Nach-Taliban-Ära.

Auch diese documenta geht einmal zu Ende. Was machen Sie dann?
Diese Frage ist sehr persönlich und vertraulich. Ich denke über verschiedene Sachen nach. Ich möchte keinen Urlaub machen, ich möchte darüber nachdenken, was passiert ist und was diese Ausstellung in der Geschichte der anderen documenta-Ausstellungen bedeutet. Es ist wahr, dass ich eine Vision habe, die größer ist als Kunst allein.

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