Interview

Was ruiniert der Feminismus? Der französische Erfolgsfilm „Was uns verbindet“

Die Kunst des wahren Lebens: Der französische Film „Was uns verbindet“ erzählt bewegend von allen Aspekten des Lebens - und seinen Wendungen. Ein Interview mit der Regisseurin Carine Tardieu
Margret Köhler |
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Valeria Bruni Tedeschi als Frau, die keine Kinder wollte und plötzlich in eine verletzte Familiensituation kommt.
Valeria Bruni Tedeschi als Frau, die keine Kinder wollte und plötzlich in eine verletzte Familiensituation kommt. © Alamode
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Im Mittelpunkt von Carine Tardieus fünften Spielfilm steht Sandra, eine selbstbewusste und selbstbestimmte Frau in den Fünfzigern, Leiterin einer feministischen Buchhandlung, die offen zugibt, sich in Gesellschaft von Büchern wohler zu fühlen als mit Kindern und deshalb nie Nachwuchs wollte. Als der Nachbar eines Morgens bei ihr klingelt und bittet, auf den kleinen Sohn aufzupassen, weil er mit seiner Frau zur Entbindung ins Krankenhaus muss, ist sie erst einmal überrumpelt. Nach dem Tod der Mutter bei der Geburt springt sie ein und wird zur Ersatzmutter für den Jungen und bald zur Bezugsperson der Familie.

Mit Sensibilität und der wunderbaren Valeria Bruni Tedeschi zwischen Abwehr und Empathie erzählt die französische Regisseurin von Freundschaft und Liebe, Trauer und Verlust, Hoffnung und Lebensfreude.

AZ: Madame Tardieu, was gefiel Ihnen besonders gut an Alice Ferneys Roman „L’intimité“?
CARINE TARDIEU: Vor allem die Figur der Sandra, Single aus Überzeugung, hat mich interessiert. Sie verkörpert eine unabhängige, willensstarke Frau, die Freiheit für sich reklamiert. Und wie sie dann diesem trauernden Mann und seinem kleinen Sohn begegnet und auch noch das Baby ihren Alltag auf den Kopf stellte, das hat mich gerührt. In der zweiten Hälfte verschwand die Hauptfigur, deshalb habe ich das Buch erst einmal zur Seite gelegt. Bei einem Besuch sah es Fanny Ardant, Protagonistin meines Films „Im Herzen jung“, auf meinem Schreibtisch und meinte, daraus sollte ich was machen. Das hat erneut meine Neugier geweckt und mit Erlaubnis der Autorin durfte ich Sandra in den Mittelpunkt stellen. Alice Ferney fühlte sich auch nicht verraten, sondern mochte den fertigen Film.

Valeria Bruni Tedeschi ist für ihre Spontaneität bekannt. Durfte sie manchmal improvisieren?
Ich war ziemlich streng. Valeria ist sehr explosiv und hier musste sie sich zurücknehmen, eine riesige Herausforderung für sie und ein täglicher Kampf zwischen uns. Sie ist wie ein wildes Pferd, das man in Zaum halten muss. Es gab keinen Moment, wo sie sagte, ich vertraue dir, ich spiele so, wie du willst. Am Ende war sie aber glücklich und hat sich sogar für meine Unnachgiebigkeit bedankt.

Vater (Pio Marmaï) und Sohn (César Botti ): Er wird Witwer und der Sohn ist nicht von ihm. Aber alles fügt sich in etwas Neues.
Vater (Pio Marmaï) und Sohn (César Botti ): Er wird Witwer und der Sohn ist nicht von ihm. Aber alles fügt sich in etwas Neues. © Alamode

Verbundenheit und Liebe sind zwei wichtige Eckpfeiler in Ihrer Geschichte.
Die Figuren erleben beides, die Gefühle entwickeln sich weiter, schwanken. Die Beziehungen ändern sich, manchmal ist es schwierig, zwischen Verbundenheit und Liebe eine Trennungslinie zu ziehen. Verbundenheit kann die Vorstufe von Liebe sein, muss aber nicht.

Wie erklären Sie sich die Wandlung der Feministin Sandra, die keine Kinder will und dann doch eine starke Bindung zum Nachbarjungen entwickelt...
Sie hat nichts gegen Mutterschaft, sich aber bewusst dagegen entschieden. Als der Junge in ihr Leben stürzt, weckt er einen starken mütterlichen Instinkt in ihr. Sie merkt, er braucht sie und lässt sich ganz auf dieses neue Gefühl ein. Sandra ist keine radikale, sondern eine sehr milde Feministin, die ein selbstbestimmtes Leben führt.

Und einsam ist. Ist Einsamkeit der Preis für weibliche Selbstbestimmung und Selbstermächtigung?
Das glaube ich nicht. Sie hat einen Freundes- und Bekanntenkreis und auch mal einen Liebhaber. Ich würde sagen, sie leidet unter Bindungsangst und schützt sich aus Angst vor Gefühlen, auch weil sie zu sentimental ist. Sie vermeidet es, Schwäche zu offenbaren und ist viel fragiler, als sie selbst glaubt.

Dürfen Männer Frauen auf den Hintern schauen? 

Dagegen ist ihre Mutter, herrlich gespielt von Marie-Christine Barrault, ziemlich rigoros. Sie hat „genug von Frauen, die sich beklagen, weil ihnen Männer auf den Hintern schauen“. Was steckt hinter diesem starken Satz?
Jeder Satz ist geplant. Ich mag diese Person auch sehr, das heißt aber nicht, dass ich mit dem, was sie sagt, einverstanden ist, und ich mag es nicht, wenn Männer Frauen als Objekt betrachten und ihren Körper taxieren. Aber es gefällt mir, die Generationen gegenüber zu stellen und die verschiedenen Varianten des Feminismus. So provoziert die Mutter ihre Töchter mit dieser Bemerkung. Sie selbst wurde als junge Frau von ihrem Mann verlassen und hat trotzdem Sex und Liebe nicht aufgegeben, war auf ihre Art eine Feministin, fühlte sich nie als Opfer. Feminismus präsentiert sich zu jeder Zeit in einer anderen Form. Ich fand den Gegensatz zwischen den Schwestern spannend. Sandras Schwester hat fünf Kinder und ist glücklich, schwimmt mit ihrem Bekenntnis zu einer großen Familie gegen den Strom und den Zeitgeist. Die Mutter hält ihre Tochter Sandra dagegen für konventionell. Jede von uns hat eigene Prinzipien, auch wenn wir uns nicht immer daran halten.

Regisseurin Carine Tardieu.
Regisseurin Carine Tardieu. © Milena Menadier / Alamode

Mutter und Töchter vertreten unterschiedliche Auffassungen, ohne in Dogmatismus zu verfallen.
Sie führen eine sehr kontroverse und im Ton vielleicht mal scharfe Diskussion, sind trotzdem tolerant. Es ist einfach wichtig, gerade in der Familie trotz aller Differenzen miteinander zu sprechen und nicht die Türen zu knallen. In unserer Gesellschaft sollte man das Recht haben, Gegensätze offen auszusprechen, alles andere würde das Ende unseres Zusammenlebens bedeuten.

Leben wir nicht in einer Zeit des Individualismus, der Abschottung des Einzelnen, dem Rückzug in die eigene Blase? Was zählen da noch die anderen?
Die Gefahr, sich abzukapseln und sich nur noch mit Gleichgesinnten zu umgeben, besteht natürlich. Aber meine Protagonisten öffnen sich, überwinden das Trennende, suchen das Gemeinsame und tauchen ein in ein neues Leben mit neuen Emotionen.

Wie entwickeln Sie die Filmfiguren mit ihren Ecken und Kanten, Fehlern und Stärken?
Ich empfinde für meine Figuren immer eine große Zuneigung, ich muss sie lieben und verstehen. Das ist die Voraussetzung. Jeder Mensch besteht aus vielen Facetten. Niemand ist nur gut oder nur böse. So ist keine Person in sich erstarrt, alle lassen Zweifel zu, ändern ihre Ansichten und Ziele, werden mit ihren inneren Widersprüchlichkeiten konfrontiert und entdecken sich neu. Die Erzählung folgt diesem Prozess, ohne persönliche Mängel und Irrungen auszuklammern, deshalb sind diese Menschen uns doch so nahe. Ich versuche eben, echte Figuren zu schaffen, keine Kunstfiguren.

Sandra ist eine sehr ambivalente Persönlichkeit, eine sanfte Feministin. Oft stehen sich heute der milde und der militante Feminismus fast unversöhnlich gegenüber. Überspitzt formuliert: Männer sind die Bösen, Frauen die Guten. Gerät da die Balance besonders bei jungen Menschen nicht ins Wanken, läuft etwas in der Kommunikation falsch?
Da stimme ich Ihnen nicht zu. Ich weiß nicht, nicht ob die Jungen so radikal sind. Man kann auch nicht sagen DIE Männer oder DIE Frauen, das wäre wie DIE Juden oder DIE Araber. Die Gesellschaft ist vielfältig. Es gibt nicht nur einen Feminismus und ich kenne viele Männer, die sich und ihre Privilegien infrage stellen, die sich bemühen, Frauen und ihre Situation zu verstehen. Frauen waren in der patriarchalischen Gesellschaft immer unterdrückt. Das ändert sich langsam, aber klar, da schlägt schon ein Stück Radikalität durch, wenn man die Frauen gegen die Männer aufbringt und umgekehrt. Das ist die Gegenreaktion. Aber Männer können auch Feministen sein. Heute ist die Zuordnung der Geschlechter viel schwieriger als früher, die Grenzen sind fließend. Wer ist Mann, wer ist Frau? Wir sind in einer Übergangs- und Experimentierphase, um zu einem größeren Gleichgewicht zu kommen. Es ist faszinierend, der gesellschaftlichen Entwicklung zuzusehen. Das mag Komplikationen herausfordern, dennoch halte ich die junge Generation nicht verlorener als meine Generation damals, als es feste sexuelle Zuordnungen gab, man heterosexuell oder homosexuell war. Sexualität ist etwas sehr komplexes.

Männer sind nicht schwach, sondern sensibel

Sind die Männer in Ihrem Film schwach oder nur in einer kritischen Phase?
Die Männer sind nicht schwach, sondern fragil und sensibel. Vielleicht ist es für Männer schwieriger, ohne Partnerin das Leben zu stemmen. Frauen sind stärker darin, die Einsamkeit zu überwinden und mit ihr umzugehen. Sie sind es in der Regel, die Entscheidungen treffen.

Profitieren Regisseurinnen in Frankreich vom gesellschaftlichen Wandel?
Die Situation hat sich umgekehrt. Meine Kollegen sagen mir, du hast Glück, eine Frau zu sein, als Mann habe ich zur Zeit definitiv die schlechteren Karten. Der Wunsch nach Parität steht bei den Produzenten ganz oben auf Liste, und so haben inzwischen Frauen bessere Chancen, einen Film finanziert zu bekommen. Es wurde auch wirklich Zeit, dass sich das Fähnchen mal drehte.

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