Was den Zuschauer bei den Filmfestspielen von Venedig aufwühlt

Audio von Carbonatix
Neun Mal war er schon seit 1998 der Held des Roten Teppichs am Lido gewesen. 2014 hatte er in Venedig geheiratet. Jetzt, sein zehntes Mal bei der Filmbiennale, stand alles unter einem schlechten Stern: Nicht nur, dass es schüttete. Sondern der Star, für den Teenies tagelang campierten und mit selbstgemalten Schildchen gewartet hatten, war urplötzlich krank geworden - um dann doch zu erscheinen.
Die Tür der Limousine öffnet sich, Clooney steigt hinten aus, geht um den Wagen, um Amal die Türe zu öffnen. Unter dem Jubel der Fans zeigt er auf seine Stirn, seinen Mund und auf den Hals: „Seht her, auch Stars können mal krank sein!“, scheint er zu sagen und dann nimmt er sich doch wieder viele Minuten Zeit für Selfie-Lächeln und Autogrammkritzeln - und scherzt mit Fieber mit dem Festivaldirektor, seinem Regisseur und dem Cast.
So löst er noch einmal den Martini-Werbespruch von vor über zwanzig Jahren ein: „No George, no Party“. Und weil der Film von Noah Baumbach „Jay Kelly“ wirklich - leicht modifiziert - Clooney selbst als Hollywoodstar zum Thema hat, wäre der Abend ohne ihn auch ein Trauerspiel gewesen.

Bald ein Dutzend Mal hat Clooney also Venedig elektrisiert, da ist es überraschend, dass sie noch nie hier am Roten Teppich da war: Julia Roberts. Venedig aber kennt sie: Immerhin hat Woody Allen hier mit ihr „Everybody Says I Love You“ (1996) gedreht: Und das ist genau der Satz, der jetzt über Roberts fällt. Sie ist für „After the Hunt“ da, ein Drama, das der nach Hollywood dauer-ausgeliehene Sizilianer Luca Guadanino gedreht hat: „Es geschah in Yale“ steht wie ein Menetekel groß auf der Leinwand zu Beginn.
Wahrheit und Lüge
Was geschah? Nach einem gemütlichen Abend mit akademischem Geplänkel über Ethik in der Gesellschaft bei Professorin Alma (Julia Roberts) folgt am nächsten Tag der Schock. Die schwarze Studentin Maggie (Ayo Edebiri) vertraut sich ihrer Mentorin an: Später kam es nach einem Absacker in ihrer Wohnung zu einem sexuellen Übergriff durch einen Professoren-Kollegen. Der Beschuldigte wehrt sich, vermutet einen Racheakt der jungen Frau, weil er sie mit Plagiaten in der Doktorarbeit konfrontiert hat. Es steht Aussage gegen Aussage. Der Mann verliert Job und Freunde, steht vor dem Nichts.

Luca Guadagnino („Call me by your Name“ und „Bones and All“ mit Timothée Chalamet und „Queer“ mit Daniel Craig) erzählt vom Kampf um Wahrheit und Lüge, das feige Schweigen von Leuten, die nicht hineingezogen werden wollen, das Vertuschen, vielleicht ist auch ein unterschwelliger Rassismus im Spiel. „Eine Schwarze wird sexuell genötigt und die Weißen schweigen“, klagt Maggie. Guadiagnino lässt in Gesprächen Foucault, Heidegger oder Adorno einfließen, stellt auf unterschiedlichen Ebenen die Frage nach Schuld und Unschuld, nach Moral und Verantwortung, nach seelischen Verletzungen. Das alles wühlt auch die Zuschauer auf und drängt zu Diskussionen. Auch die empathische Professorin selbst verbirgt ein Geheimnis aus der Vergangenheit.
Ein Juwel des Festivals
Dass der Film nicht im Wettbewerb läuft, soll - laut Festivalchef Alberto Barbera - ein Wunsch des Regisseurs selbst gewesen sein. Vielleicht, um keine Diskussion auszulösen, ob man einen derartigen Film nicht auszeichnen müsste - als Zeichen!
Egal. „After the Hunt“ bleibt ein Juwel des Festivals. Sowie auch Park Chan-wooks Adaption des US-Vorstadtromans „No Other Choice“ von Donald Westlake (1997), den Costa-Gavras schon nach Belgien versetzt hatte und der jetzt in Korea spielt. Es ist die Geschichte eines Facharbeiter-Aufsteigers, dessen Eigenheim-Familien-Hunde-Idylle unterhöhlt wird, als er arbeitslos wird.
Der Film verhandelt in einer Mischung aus Satire und Horrorkomödie und echtem Drama die Frage: Wie weit geht man, um seinen sozialen Status zu retten, und kann man normal weitermachen mit Leichen im Keller?

Den Kapitalismus beleuchtet auch der französische Beitrag: „Bei der Arbeit“ von Valérie Donzelli: Es ist die Geschichte eines Schriftstellers, der - trotz einigen Erfolgs - ins Prekäre abrutscht, weil man vom Schreiben nicht mehr leben kann. Und es ist für das Bürgertum Augen öffnend alles hinter den schönen Buchcovern und jenseits der Buchmessen, Lesungen und Signierstunden zu erleben. So erlebt man auf einem Hochleistungs-Festival bestenfalls all das: Entertainment, gesellschaftliche Diskussionen und Glamour.
An diesem Wochenende werden noch Oscar Isaac, Christoph Waltz, Tilda Swinton, Mads Mikkelsen, Tom Waits, Adam Driver erwartet - Cate Blanchett ist als Kinoenthusiastin schon von Anfang an am Roten Teppich gewesen, bevor ihr Film „Father Mother Sister Brother“ von Jim Jarmusch am Sonntagabend Premiere hat.
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