Von der Möglichkeit des Wandels

Selbstironische Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ohne aufgedrückte Moral: Julian Radlmaier gelingt in seiner vielschichtigen Satire ein seltenes Kunststück.
Maximilian Haase |
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Die Arbeiter auf der Apfelplantage erscheinen bisweilen wie Figuren wie bei Fassbinder, wie Camille im Film feststellt.
2017 Grandfilm Die Arbeiter auf der Apfelplantage erscheinen bisweilen wie Figuren wie bei Fassbinder, wie Camille im Film feststellt.
Redet man heute vom Kommunismus, schwingt dabei ein Rattenschwanz düsterer historischer Implikationen mit: Gulag, Stalin, Gleichmacherei, Mauertote. Man mag es daher gewagt oder auch erfrischend finden, wenn sich ein junger Filmemacher
jenem missverständlichen Begriff in all seiner Marx'schen Pracht nähert: Als Befreiung des Menschen aus allen Verhältnissen, die ihn knechten. Welch wichtige und witzige Widersprüche diese Vorstellung einer besseren Gesellschaft im neobürgerlichen Wohlstandsmenschen hervorruft, illustriert Julian Radlmaier in seiner Satire "Selbstkritik eines bürgerlichen
Hundes" auf wundervolle Weise: Zynismusfrei reflektiert der 1984 geborene Nürnberger in seinem Abschlussfilm das Künstlerdasein zwischen kapitalistischer (Selbst-)Ausbeutung, Revolution und salonkommunistischem Hipsterchique. Was macht man als kommunistischer Künstler in einer Welt, in der die gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse zumeist als naturgegeben hingenommen werden? Gehörte es bis in die 80er-Jahre auch unter Filmschaffenden
zum guten Ton, sich mit großen Gesten antikapitalistisch zu positionieren, lösten sich derlei radikale Positionen im Kino danach in belächeltes Wohlgefallen auf - oft zugunsten reformerischer "Sozialkritik" und moralischer Selbstoptimierung. Armut in Afrika? Schlimm. Was hilft? Bewusster konsumieren! So etwa lautet der seichte Konsens heute. Klassenkampf? Ausbeutung? Revolution? Marx? Quatsch von gestern, so die Devise. Was also tun? Eine künstlerische Möglichkeit zeigt der junge Regisseur Julian Radlmaier mit seinem herausragenden, offenen, sensiblen, klugen und wirklich humorvollen Film "Selbstkritik eines bürgerlichen
Hundes" auf, der in diesem Jahr auf der Berlinale als eines der wenigen deutschen Werke gelobt wurde. Die "Selbstkritik" - so nennt man in sozialistischen Gesellschaften die (erzwungene) Reflexion des eigenen Handelns vor einer Gruppe. Radlmaier persifliert diese Praxis in seiner essayhaft erzählten Satire: Als Julian, der Filmemacher, spricht und spielt er sich selbst, inszeniert sich in wundervoll lakonischer Szenerie als erfolgloser Berliner Jungregisseur auf Hartz IV, der vom Arbeitsamt
dazu verdonnert wird, auf einer Brandenburger Apfelplantage zu schuften. Das kann der Protagonist vor seiner Angebeteten, der kritischen kanadischen Studentin Camille (Deragh Campbell), natürlich nicht zugeben: Fix konstruiert er die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als Recherche für ein kommunistisches Filmprojekt zu den Arbeitsverhältnissen der Erntehelfer im Spätkapitalismus
. Die Hauptrolle erhält Camille, die natürlich begeistert ist und Julian begleitet. Angekommen auf der Apfelplantage treffen die beiden auf eine chaotische Entourage überzeichneter Charaktere: Die Ex-Museumswächter Hong und Sancho, die auch als Flaschensammler gescheitert sind; zwielichtige Gestalten aus dem Ostblock, die revolutionäre Schriften lesen; junge Hipsterinnen, die vom Anarchismus schwärmen und ein junger Mönch mit Schweigegelübde. Camille freut sich über die echten "Fassbinder-Figuren", während Julian das Ausmaß der Ausbeutung auf der Plantage gewahr wird. Bald liegt Revolution in der Luft ... In seiner Dialektik und Metaebene aktualisiert die "Selbstkritik" Diskurse, die schon die bürgerlichen 68er beschäftigten: Entpuppt sich das intellektuelle Kommunismus-Gerede nicht selten als Lifestyle-Entscheidung junger Hipster? Zitieren viele kritische Künstler Marx und Co. nicht einfach, um jemanden ins Bett zu bekommen? Kann man sich als revolutionäres Gutbürgerkind von seiner Klasse überhaupt lösen? Und was, wenn die Arbeiter gar nicht so denken und handeln, wie man das gerne hätte? Radlmaier erzählt in seiner vielschichtigen "Selbstkritik" von der Utopie und ihren Widersprüchen undogmatisch und ohne gutmeinende Moral, dafür mit einer subtilen, politischen Komik von hierzulande seltener Brillanz. Schöner und reflektierter kann man sich den gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren ideologischen Grundlagen im Kino kaum annähern.
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