Transit in der AZ-Filmkritik
Sie sitzen im Café mit ein paar verbliebenen Euros in der Tasche. Einige sind zu gut angezogen für einen normalen Werktagnachmittag, anderen sieht man an, dass sie schon bessere Zeiten gesehen haben, manche lassen sich schon gehen. Über allem liegt eine seltsame Mischung aus existenzieller Erschöpfung, Langeweile des Fremdseins und angstvoller Anspannung.
Und wo viele ums Überleben kämpfen, hat alles seinen Preis: ein gefährlicher Botengang, ein gefälschter Pass, eine Gefälligkeit. Georg (Franz Rogowski) streunt wie ein Straßenköter, der weiß wie man überlebt, durch die Straßen von Marseille. Er ist aus Paris in einem Güterwagon den paramilitärischen Häschern entkommen, die jetzt auch hier der Hafenstadt immer näher kommen. In Lebensgefahr ist dieser Georg pragmatisch geworden, notfalls korrupt, jedenfalls instinkthaft, dabei aber – und das ist die Kunst des Filmes und Rogowskis – nie unsympathisch.
Der Roman von Anna Seghers erschien bereits 1944
Und obwohl über dem Film eine gewisse lakonische Kühle liegt, hofft man mit dem abgeklärten Georg, dass er seinem grausamen Schicksal entkommt: über die Pyrenäen mit einer Frau, mit deren Sohn er ein wenig Freundschaft beim Kicken geschlossen hat. Oder, dass er es aufs Schiff Richtung Südamerika schafft unter falscher Identität mit dem ihm blutig vom Schicksal zugespielten Visum. Dieses Visum schließt eine andere Frau ein, Marie (Paula Beer), die eigentlich in Marseilles auf ihren Schriftstellermann wartet, den sie verlassen hat, mit dem sie aber jetzt gemeinsam die Falle Frankreich verlassen will. Was sind Treue, Liebe, Sex noch wert, wenn ein Leben nichts mehr wert ist oder nur noch teuer verkauft werden kann?
In Marseilles darf jetzt nur noch bleiben, wer beweisen kann, dass er gehen wird. Von der Bevölkerung sind die Flüchtlinge nur geduldet, solange sie zahlen können. Der Druck steigt, der Faschismus rückt immer näher. Und in dieser Schraubzwinge kommt eine Stimmung auf, in der sich die Geflohenen wie aus der Geschichte gefallen empfinden, obwohl gerade die Geschichte zynisch nach ihrem Leben trachtet. Aber dieses Marseille ist seltsamerweise kein hysterischer Hexenkessel.
Vielmehr gelingt es Christian Petzold, die Balance aus Sich-Treiben-Lassen und doch Getrieben-Seins der Menschen im ungewissen Transit spürbar zu machen. Marseilles ist dabei eine in der Hitze träge schleichende Katze, die aber jeden Moment zupacken könnte. Und so saust plötzlich auch eine Horde sirenenheulender Polizeiwagen an der Glasfront einer Bar mit Wartenden vorbei. Irgendwo in der Nähe ist eine Razzia mit anschließenden Deportationen.
Menschen auf der Flucht, die wir selbst sein könnten
So erleben wir in Christian Petzolds Verfilmung des Romans "Transit" von Anna Seghers, der 1944 erschien und die eigenen Erlebnisse Seghers mit verarbeitete, die Flüchtlingssituation doppelt nah. Zum Einen sind hier keine Menschen aus anderen Kulturkreisen auf der Flucht und auch nicht in unsere Richtung. Vielmehr sind es Menschen aus unserem, bürgerlich sicher geglaubten Deutschland, die wir selbst sein könnten. Zum anderen hat es Petzold vermieden, einen historischen Film zu drehen.
Wir erleben das heutige Südfrankreich am Mittelmeer mit seiner Sonne, seinen Cafés, seiner Melancholie. Und wir sehen Güterzüge, die mit Polizeihunden abgesucht werden, billige Absteigen, die von der Polizei durchkämmt werden, Konsulate, in denen Menschen Schlange stehen geeint im Flüchtlingsschicksal, aber notfalls auch egoistisch nach der eigenen Chance greifend. Es ist die lebensgefährliche Exilsituation, die alles moralisch zuspitzt und auflöst. Und in dieser bedrohlichen Unsicherheit verschärfen sich spannend die großen Lebens- und Liebesfragen.
Kino: ABC, City, Theatiner, Isabella R: Christian Petzold (D, 101 Min.)
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